Zeitreise in die Zauberwelt – Bob Wilson inszeniert „Time Rocker“ im Hamburger Thalia-Theater

Von Bernd Berke

Hamburg. Die vielen Kamerateams konnten ihren Sendern erfolgreiche Prominentensuche melden: Zur Uraufführung von „Time Rocker“ in der Regie des texanischen Theaterzauberers Bob Wilson gab es erheblichen Auftrieb im Thalia-Theater – von etlichen Bühnenchefs oder Schauspielern (Mathieu Carrière, Ulrich Tukur) bis zum „Tagesschau“-Sprecher Wilhelm Wieben. Sie alle waren hergepilgert, um gleichsam ein Sakrament in Empfang zu nehmen.

Denn Bob Wilson läßt Theater nicht einfach spielen, er zelebriert es als Liturgie wie kein anderer; mit atemberaubenden Bilderfolgen und ungeheuren Licht-Erscheinungen. Nach „The Black Rider“ und „Alice“ war „Time Rocker“ bereits seine dritte Hamburger Weihe-Handlung. Diesmal hatte Lou Reed, seit seinen wilden Zeiten mit „The Velvet Underground“ eine unumstößliche Größe der Rockszene, die Musik geschrieben.

Kriminalstory führt ins Nirwana

In 31 Szenen mit 16 Songs schleusen uns Wilson, Reed und Texter Darryl Pinckney in eine ausgedehnte Zeitreise ein. Anfangs geht’s zurück bis in die vorchristliche Ära, später voraus in visionäre Zukunftswelten. Notdürftig verknüpft sind diese Fahrten durch eine Kriminalstory. Priscilla (herausragend auch als Sängerin: Annette Paulmann) und Nick (Stefan Kurt, fernsehbekannt durch den „Schattenmann“) werden in seltsam mechanisch abschnurrenden Slapstick-Szenen von Scotland Yard beschuldigt, ihren Herrn und Meister, den Erfinder Dr. Procopius (Hans Kremer), hingemeuchelt zu haben. Dabei ist der Mann auf Zeitreise gegangen, und in dieses grenzenlose Nirwana zwischen den Epochen flüchten ihm nun Priscilla und Nick nach.

Und schon hat die Inszenierung ihren ersten ganz großen magischen Moment. Wenn die Zeitmaschine in Form eines weißen Fisches erscheint und vor blauem Breitwand-Hintergrund davonsegelt, glaubt man sich versetzt ins Zauberreich.

Kurz darauf wandert ein kleines weißes Haus über die dunkle Bühne – und man sieht gleichzeitig, wie sich jemand die überlangen, phosphoreszierend grünen Fingernägel abbeißt. Bewegliche Steine, tanzende Würfel, leuchtende Altäre, alles gibt’s in diesen taumelnden Welten. Rätselvolles Theater mit Charisma.

Es ist, als ob Wilson ein wunderschönes großes Bilderbuch umblättere. Und wo sind wir Zuschauer nicht überall gewesen! In einen altägyptischen Tempel sind wir geraten, in eine chinesische Opiumhöhle, zwischen drei mannstolle Studentinnen („Klick mich an, ich bin deine Maus“) oder in eine Badeanstalt der Zukunft, wo nackte Körper schwerelos schweben.

Ein Stuhl stürzt minutenlang um

In all diesen seherischen Szenen entfaltet sich der typische Wilson-Stil der Verlangsamung. Wenn etwa ein Stuhl umstürzt, so sieht man diesen Vorgang in einer mehrminütigen, enorm spannungsgeladenen Zeitlupe. Überhaupt wird „Time Rocker“ zu einer Meditation über das Zeitempfinden, aber auch über das Geisterhafte des menschlichen Körpers in einer technisch entgrenzten Zukunft.

Der Zusammenhang ergibt sich nicht wie sonst im Theater, sondern eher wie im Traum oder wie in einer betörenden Kunstausstellung. Nur daß man hier keinen Rundgang unternimmt, sondern die Bilder an einem vorbeigezogen oder – wie seltene Schätze – gehoben werden.

Von bezwingender Kraft und Einprägsamkeit ist auch Lou Reeds Musik. Schönes Wechselspiel: Mal lassen sich die Töne von und in den Bildern treiben, mal peitschen see die Szenen voran.

Termine: 16., 17., 18., 19. Juni. Karten: 040 / 32 26 66.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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