Von Bernd Berke
Welch ein literarischer Schatzfund! Mit dem „Ideen-Gewimmel“ aus dem Nachlaß des Goethe-Zeitgenossen Jean Paul Friedrich Richter (1763-1825) wird dieser große Romanautor („Titan“, „Die unsichtbare Loge“. „Flegeljahre“), 171 Jahre nach seinem Tod, endlich auch als wortmächtiger Aphoristiker sichtbar.
Außer Georg Christoph Lichtenbergs „Sudelbüchern“ dürfte es keine ebenbürtige Sammlung von knapp gefaßten, in allen Facetten funkelnden Einfällen geben. Für die Herausgeber Thomas Wirtz und Kurt Wölfel war es keine leichte Aufgabe, diesen Strom von Texten zu kanalisieren. Demnächst sollen sechs weitere Bände erscheinen. Auch dann wäre erst ein Fünftel des riesigen Nachlasses von rund 40 000 Heftblättern publik.
40 000 Seiten lange nicht beachtet
Daß bisher nichts davon erschienen ist, hat mit den Wirren des Jahrhunderts zu tun: Herausgeber Eduard Berend mußte 1938 Deutschland verlassen, weil er als Jude verfolgt wurde. 1958 gelangten die Manuskripte, zuvor russisches Kriegs-Beutegut, nach Ost-Berlin zurück, wo sie den SED-Ideologen nicht gefielen und daher unbeachtet blieben. Manche Ideen blühten später in Jean Pauls Romanen, andere stehen unvermittelt als spontane Eingebungen da. Doch stets löst der Autor sein Ziel ein: „Der deutschen Sprache die Zunge lösen.“
An Goethe kam damals keiner vorbei. Im „Ideen-Gewimmel“ erfährt man, wie sich der Provinzbewohner (Meiningen, Coburg, Bayreuth) und oft einsame Schreibtischmensch am repräsentablen Weimarer Klassiker mal innerlich aufgerichtet, mal (auf)gerieben hat.
Maschinen, die Maschinen erfinden
Offenbar hat der Mann nur für die Literatur gelebt: „Oft weiß ich kaum, was ich eigentlich aus mir machen soll als Bücher.“ Haben die Herausgeber auch die Schreib-Eigenarten in ursprünglicher Form belassen (was das Lesen gelegentlich erschwert), so muten die Inhalte doch vielfach modern an. Jean Paul macht sich z. B. Gedanken darüber, ob man antike Hühnereier nach vielen hundert Jahren ausbrüten und die Tiere dann untersuchen könne, oder er sieht voraus, daß es Maschinen geben werde, die ihrerseits Maschinen erfinden…
Oft verdichtet sich resignativ getönte Lebensweisheit: „In der Jugend will man sonderbarer erscheinen als man ist, im Alter weniger sonderbar als man ist.“ Und ein Grundgesetz humanen Handelns lautet in Originalschreibweise so: „Nichts solte uns wohlthätiger machen als der Gedanke, daß wir diese-Welt nie mehr betreten und daß wir einige schöne Spuren zurüklassen sollen. Wie wenn du auf einen Tag in den Abendstern versetzt würdest und nie wieder: würdest du dort zerreissen und niedertreten?“
Dieser Schriftsteller hat sich für alles Erdenkliche interessiert: Er hat Herrscher und Fürsten gebrandmarkt, theologische Überlegungen angestellt, aber auch über Geschlechterkampf, Natur, Jahreslauf und Wetterzustände philosophiert. Dabei lugt schon mal der sehnsüchtige „Romantiker“ hervor: „Es gibt keinen Frühling, nur Frühlingstage, ja Abende – Ein Abend hat dem Herzen alles gesagt“. Dann wieder äußert er sich mit hintersinnigem Witz. Über die Ehe: „Das Paradies verlieren und den Paradiesvogel behalten.“ Über Mediziner: „Der Arzt und der Sargmacher verhalten sich wie der Vogelsteller und der Vogelbauermacher.“ Und übers Zölibat: „Wir müßten verhungern, wenn es unter den Gewächsen viele Nonnen gäbe.“
Zuerst den Wein, dann den Kaffee
Jean Paul war eben kein Freund der Enthaltsamkeit, er hat auch dem Alkohol zugesprochen, um sich in kontrollierten Schaffensrausch zu versetzen. Motto: „Entwirf bei Wein, exekutiere bei Kaffee.“
Prächtig, daß man just jetzt auch Jean Pauls sonstige Dichtungen zum günstigen Preis bekommt: Der „Zweitausendeins“-Verlag hat soeben die erstmals 1961 erschienene Hanser-Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ (Herausgeber: Walter Höllerer, Norbert Miller) neu aufgelegt. Eine Fundgrube ist gar nichts dagegen.
Jean Paul: „Ideen-GewimmeI“. Texte und Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß. Eichborn-Verlag, 301 Seiten, fester Einband, 44 DM.
Jean Paul: „Sämtliche Werke“ in 10 Bänden. Verlag Zweitausendeins. Komplett 199 DM.