Weltgeist in der Erbsensuppe – Ernst Jüngers privatisierende Tagebücher „Siebzig verweht III“

Von Bernd Berke

Ernst Jünger ist der wohl umstrittenste deutsche Autor des Jahrhunderts. Sein Frühwerk („In Stahlgewittern“) half heftig mit bei der geistigen Aushöhlung der Weimarer Republik. Zwar hat er sich dann nicht direkt mit den Nationalsozialisten eingelassen, sich aber stets in deutschnationalen Kreisen bewegt. Jetzt liegt der dritte Band seiner Tagebücher „Siebzig verweht“ vor. Erbauungs-Lektüre für «Rechtsausleger“?

Jünger geriet in der NS-Diktatur (wegen „Auf den Marmorklippen“, 1939) gar in Gefahr. doch hat er allzeit mächtige Beschützer gehabt. Niemand anderer als Hitler hat Jünger vor Verfolgung durch den Blutrichter Roland Freisler bewahrt. Diesen durch Dokumente gestützten Sachverhalt teilt Jünger in seinem Tagebuch spürbar bewegt mit.

Der Garten und die Insekten

Trotz aller Bedenken dürfte Jünger, der bald 99 wird und somit ein deutsches Jahrhundert überblickt, als Zeitzeuge auf seine Art unentbehrlich sein. Wird er dieser Stellung im Tagebuch gerecht? Nun, eigentlich privatisiert er lieber, als daß er sich noch auf Zeitfragen einließe.

Die jetzt erschienenen Aufzeichnungen reichen vom l. Januar 1981 bis zum 28. Dezember 1985. In diese Zeit fällt u. a. die strittige Verleihung Goethe-Preises an Jünger. Da ergreift er ausgiebig die Gelegenheit, sich als wegen seiner Gesinnung unschuldig „Verfolgten“ darzustellen. Er stellt sich dabei gar in eine historische Reihe mit den Juden (Seite 247), was eine unglaubliche Verzerrung ist.

Seine gelegentlichen Treffen mit Kohl und Mitterrand erwähnt er nur beiläufig. Den Hauptteil der Notizen bilden indes private Ereignisse: Reisen, besonders auf Mittelmeerinseln und nach Paris; der Lauf der Jahreszeiten in seinem Garten zu Wilflingen (Schwäbisehe Alb); gelegentlich eitle Wiedergaben von Briefen seiner Freunde und Anhänger – und immer wieder seine Hauptleidenschaft, die Entomologie, sprich Insektenkunde. Über rare Käfer freut sich Jünger königlich.

Zudem denkt er nicht mehr in Jahren, sondern in Zeitaltern. Demnach stehen wir vor „dem Übergang in eine Feuerwelt“ (z. B. wegen der Kernfusion), die einen „Weltstaat“ ratsam erscheinen lasse, womit sich Jünger immerhin von nationalistischen Phantasmen entfernt. Rückblickend ringt er sich ja sogar zu folgender Ansicht durch: „Mit der Linken wären wir ohne Zweifel besser gefahren…“

Tunnelblick auf neuere Litratur

Allerdings ist Jünger erzkonservativ und elitär geblieben, was kluge Gedanken selbstverständlich nicht ausschließt. Doch schon die Sprache ist manchmal verräterisch. Das ist ein Soldat nicht etwa gefallen oder gar verreckt, sondern „vor Metz geblieben“ (Seite 503). Wie nobel.

Schließlich fasziniert ihn der prekäre Zuchtwahl-Gcdanke, nur anders gewendet: Wenn „Dekadenz und Barbarentum“ sich paarten, könne Fruchtbares entstehen… Wie er denn überhaupt dazu neigt, Gesellschaftliches unter biologischen Vorzeichen zu sehen. Und Jünger gerät oft ins Nebulös-Esoterische. Auch seine oft gerühmte Sprache wird dann manchmal ungelenk. Da raunt er von einer „titanischen Welt“, die eine neue Magie der Technik freisetze und neue Menschen zeuge, da sinniert er übers Wassermann-Zeitalter.

Manchmal wird es unfreiwillig lächerlich, so etwa wenn er den waltenden Weltgeist sogar noch auf seinem Suppenteller erblickt. Zitat Seite 446: „In einer Erbsensuppe gibt es weder Zahlen noch Individuen mehr. Die Erbsen sind mehr oder weniger deformiert… Das könnte der Zustand sein, den wir erreicht haben.“

Von seiner weltenthobenen Warte aus nimmt Jünger kaum Gegenwarts-Autoren wahr. Er nennt praktisch nur Bestseller von Umberto Eco („Der Name der Rose“) und Patrick Süskind („Das Parfüm“). Kein Böll, kein Grass, kein Walser. Welch ein Tunnelblick!

Ernst Jünger: „Siebzig verweht III“. Tagebücher. Verlag Klett-Cotta. 594 S., 68 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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