Die Freiheit der Kunst kann zur Ratlosigkeit führen – Ausstellung „Das offene Bild“ in Münster

Von Bernd Berke

Münster. „Sobald man darüber redet, wird die Sache richtig kompliziert“, befürchtet Erich Franz. Doch unbefangen und mit wortlosem Wohlgefallen kann man die Schau, die er für das Münsteraner Landesmuseum zusammengestellt hat, eben auch nicht betrachten. „Das offene Bild“ heißt sie, und sie soll mit rund 200 Beispielen von 80 europäischen Künstlern zeigen, wie man sich nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr von fixen und fertigen Bild-Aussagen verabschiedet hat.

Genau das macht die Deutung neuerer Kunst so schwierig, denn auch sie ist ja seither ins Offene – und häufig genug wohl auch ins gänzliche Belieben des Betrachters gestellt. Weniger eine Schau zum Schwelgen also, eher eine zum Kopfzerbrechen, sattsam mit theoretischer Fracht beladen.

Viele Wege führen zum offeneu Bild. Ein paar Beispiele nur: Bei Gerhard Hoehme schlängeln sich zaghaft kleine Tentakeln aus der geschlossenen Bildfläche heraus. Wolf Vostell öffnet Plakatbilder, indem er ihre Außenhaut verletzt. Patrick Saytours aufgehängte Tücher werden erst durch ihre Gegenwart im Museum zur Kunst ernannt. Ihr regelmäßiges, ja eintöniges Muster könnte sich unendlich, also weit über das eigentliche Bild hinaus fortsetzen.

Und weiter: Bei Blinky Palermo sind die Teile eines Bildes gleichsam explodiert – und finden sich als Einzelstücke wieder, über die Wand verstreut und in ein neues Spannungsverhältnis zueinander gebracht. Daniel Spoerri wiederum bannt mit Klebstoff ein ganzes Heimwerker-Stilleben samt Bohrer auf eine Platte – das Bild als Wirklichkeit, die Wirklichkeit als Bild.

Pures Material oder Entmaterialisierung

Zwei Grundstrategien zeichnen sich ab: Manche Künstler (wie etwa Jean Dubuffet) lassen das Bild als pures Material zur Geltung kommen, sie häufen beispielsweise die Farbe zu fingerdicken, ertastbaren Landschaften auf oder stellen gleich vollends unbehandelte Leinwände aus. Andere (wie Günther Uecker oder Lucio Fontana) erproben umgekehrt die Ent-Materialisierung, indem sie flüchtige Vorgänge wie Schatten- und Lichtreflexe oder den Prozeß des Herstellens und Betrachtens (Fluxus-Kunst) einbeziehen. Sie alle sprengen den Rahmen, vormals ein Gütezeichen der (Ab-)Geschlossenheit. Wenn in Münster dennoch einige Bilder gerahmt oder hinter Glas gezeigt werden, so hat das ausschließlich konservatorische Gründe.

Planvolle Kompositionen, souverän gestaltete Beziehungen zwischen Figur und Grund – solche akademischen Erlesenheiten gehören der Vergangenheit an. Statt dessen begegnen wir hier entgrenzten Phänomenen wie Struktur und Materie. Das Bild wird zu einer Art Körper, es will im Grunde gar nichts mehr aussagen und darstellen, sondern ist einfach da, um sich selbst zu zeigen: Hier hänge ich und kann nicht anders. Vertrackt genug! Katalog-Erwerb und/oder Teilnahme an einer Führung sind denn bei dieser Ausstellung auch ratsam, eine Video-Einführung hilft ebenfalls weiter.

Doch vielleicht entspricht eine gewisse Ratlosigkeit dieser Schau sogar am besten, denn auch die Kunst scheint ja vor lauter Freiheiten selbst immer unsicherer geworden zu sein.

„Das offene Bild“. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster. Bis 7. Februar 1993. Tägl. außer Mo. 10-18 Uhr. Katalog 48 DM.

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 3 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Kunst & Museen abgelegt und mit , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.