Hirnforschung – mit den Mitteln der Kunst

Liebes Revier. Genaugenommen braucht es euch nicht zu bekümmern, welche Ausstellung heute in anderen Bundesländern eröffnet. In der vorliegenden aber geht es um ein Hirn. Und ich dachte, weil bei euch der eine oder andere vielleicht auch sowas hat, könnte es interessant sein. Hier also nähere Infos zu

Max Brand: „Meine Gedanken“

Galerie Jacky Strenz, Frankfurt am Main, 7.5. – 1.7.11

Schlechte Sicht. Der Blick von der Straße wird von einem Vorhang getrübt. Die mangelnde Transparenz ist Absicht, ist doch der Ausstellungsraum nichts weniger als die Veranschaulichung eines Gehirns, und als solches bekanntlich von außen nur bedingt einsehbar.

Einmal eingetreten, bietet sich die unverstellte Sicht auf zwei- und dreidimensionale Äquivalente für „Meine Gedanken“. „Seine“ genaugenommen, doch Besitzverhältnisse sind hier zweitrangig, denn die Metaphern, die Max Brand für Denkprozesse findet, sind grundsätzlicher Natur und daher übertragbar. Tatsächlich sind es kollektive Strukturen, die seine Bilder nachzeichnen. Wer jemals das eigene Denken beobachtet hat, wird Ähnlichkeiten feststellen zwischen Gedanken- und Bildfiguren. So lassen sich Brands Gemälde als Visualisierung des Denkens betrachten.

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Ob detailreich oder verkehrsberuhigt – auf sämtlichen Arbeiten finden sich Schemen von Mensch, Tier und Pflanze. Oszillierend zwischen Karikatur und Piktogramm weisen sie gerade eben genug Ähnlichkeit mit Bekanntem auf, um als Chiffre identifiziert zu werden, ohne aber den Anspruch eines Abbilds zu erheben.

Solche Klischees der sichtbaren Realität verdeutlichen den Unterschied zwischen Denken und Wahrnehmen. Im sinnlichen Kontakt erleben wir Phänomene in ihrer Komplexität. Denkend aber aktivieren wir lediglich den diskursiven Rest dieser vielschichtigen, weil ästhetischen Erfahrung. Da das eigentliche Erlebnis rational nicht fassbar ist, bleibt im Bildgedächtnis lediglich der Umriss einer ursprünglichen Fülle, bestehend aus wiederkehrenden Charakteristika: Auge und Hand, Schnabel und Schnauze – die Vielfalt der Vegetation auf eine Pril-Blume geschrumpft. Die kindliche Handschrift der Kürzel verweist auf die Tatsache, dass die in der Kindheit gespeicherten visuellen Eindrücke die Grundlage aller späteren Wahrnehmung bilden.

Doch da sich subjektives Erleben und der daraus gebildete Vorrat von Sinneseindrücken innerhalb eines kulturellen Kontextes vollzieht, der bereits frühe Prägungen mitgestaltet, bevorzugt Brand Bildträger mit sichtbarer Geschichte – bedruckte Stoffe, vom Maler gefunden, dabei aber eher ausgewählt als aufgelesen.

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Die so angedeutete Gegenwart des Vergangenen scheint auch in der erkennbaren Vielschichtigkeit der Gemälde auf, deren aktuelle Erscheinung lediglich die letzte vorhergehender Stufen darstellt. Letztere lassen sich mit unbewaffnetem Auge erkennen, ganz so, wie auch aktuelle Gedanken ihre eigene Entstehungsgeschichte nur notdürftig verbergen. Doch während wir uns selten zurückliegender Überlegungen bewusst sind, die zum gegenwärtigen Erleben beigetragen haben, schieben sich in Brands Bildern „unterbewusste Inhalte“ durch die oberste Schicht des Bildträgers. Palimpsestartig schimmern halbherzig übertönte Farben und modifizierte Formen durch die labile Oberfläche und berichten von der Macht der Geschichte.

 

Brand, o.T., 2010, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2010, © Galerie Jacky Strenz

 

Jede Leinwand enthält eine Vielzahl visueller Metaphern für Entstehung und Wandlung von Denkprozessen. Während die wenigsten Verbindungen gerade, d.h. folgerichtig verlaufen, dominieren tastende, planlos mäandernde Linien das Terrain. Sie beginnen zaghaft oder grandios, stottern, verblassen, leuchten auf, schleichen aus, brechen ab, kreuzen, schließen und verknoten sich. Zuweilen treten sie auf der Stelle, umfahren die einmal geglückte Form wieder und wieder – Lieblingsgedanken, die wir immer dann zitieren, wenn uns zu neuen Problemen nichts Neues einfallen will.

Die Kombination flüchtiger und ausgearbeiteter Zonen vermittelt den Eindruck beständiger Unbeständigkeit. Ähnlich wie wechselnde Geistesverfassungen liegen grelle, mitunter krasse Passagen neben wolkigen Gebilden, in denen die Mischung vieler Farben zu vager Dumpfheit, das Verknüpfen vieler Fäden ins Dickicht geführt hat. Die Applikation zusätzlicher Textilien und der stellenweise pastose Farbauftrag erweitert die eigentlich unzulässige Verflachung geistiger Aktivität in die dritte Dimension. Zugelassene und herbeigeführte Spuren von Alterungsprozessen bringen die vierte Dimension der Zeit ins – buchstäbliche – Spiel.

 

Brand, o.T, 2008/09, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T, 2008/09, © Galerie Jacky Strenz

Als Äquivalent des zeitgenössischen iBrains ist auf Brands Gemälden Komposition durch Kakophonie ersetzt. Einzig gemeinsames Merkmal von Farbe und Material ist ihre gleichzeitige Anwesenheit in diesem Bild– bzw. Kopfträger. Organisches und Synthetisches, Schrilles und Zartes stehen so unvermittelt nebeneinander wie widersprüchliche Gedanken.

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Dieses Zusammentreffen des Disparaten spitzt sich in den Skulpturen zu: Die Mischung von Gips und Gießharz veranschaulicht die Gleichzeitigkeit von Transparenz und Dichte, von geistiger Klar- und Trübheit. Die von einem Tau umwundene Hirnform weckt Zweifel am vermeintlich grenzenlosen geistigen Entwicklungspotential. Die lediglich an einer Außenseite bemalte, graue Materie1 hingegen erinnert an das proportionale Verhältnis von erforschten und unerforschten Hirnfunktionen.

1„Grey Matter ist die englische Entsprechung der deutschen „grauen Zellen“ als Synonym für Gehirn.

 

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

 

Farbenfroh, verwickelt und mit hartnäckig unbekanntem Inhalt thront ein geheimnisvolles Bündel wie eine uneinnehmbare Festung inmitten eines kristallklar überschaubaren Milieus: der nicht auflösbare Rest – das Hirn – umgeben von allem, was es schon weiß.

 

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

 

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