Ein Mann stürmt himmelwärts – Jan Hoet und die 9. documenta in Kassel

Von Bernd Berke

Jede „documenta“ hat ihr Wahrzeichn. Waren es bei früheren Ausgaben der Weltkunstschau zum Beispiel Walter de Marias im Boden versenkter „Erdkilometer“, Joseph Beuys‘ gigantische Öko-Aktion „7000 Eichen“ oder anno 1987 Ian Hamilton Finlays Guillotinen, so ist diesmal Jonathan Borofskys auf einer Glasfiberstange in den Himmel stürmender Mann das beherrschende Symbol: „Man walking to the sky“ – das könnte auch auf Jan Hoet, den Chef der morgen startenden 9. documenta zutreffen.

Auch bei der gestrigen Eröffnungspressekonferenz waren die Aussagen des Belgiers wolkig. In einer deutsch-englischen sprachlichen Achterbahnfahrt sondergleichen teilte er den fast 2000 staunenden Journalisten aus aller Welt mit, die Beiträge der etwa 190 documenta-Teilnehmer seien „Vorschläge der Künstler an die Gesellschaft“. Kunst gegen den „Körper-Verlust“ sei angesagt. Dieser Verlust äußere sich unter anderem in Phänomenen wie Aids, Armut und Krieg.

Da dies noch die Sätze mit der größten Substanz waren, artete die Presse-Show zur mehr oder weniger fröhlichen Absurdität aus. Da wurden Menschheitsfragen diskutiert wie jene, ob Boxfan Jan Hoet tatsächlich den (wegen Vergewaltigung inhaftierten) Weltmeister Mike Tyson jemals zur documenta-Diskussion eingeladen habe. Hoet dementierte dies heftig.

Eingeladen hatte Hoet hingegen den renommierten Künstler Sigmar Polke, doch der befand das „Museum der 100 Tage“ nicht einmal einer Reaktion für würdig. Hoet kleinlaut: „Ich habe gehört, er konzentriert sich lieber auf seine Einzelausstellung in Amsterdam.“ Jedenfalls vermisse er Polke ebenso schmerzlich wie jene Handvoll weiterer Künstler, die „aus technischen Gründen“ nicht präsentiert werden könnten. Dafür habe man aber erstmals „einen wirklichen Amerikaner“ dabei, nämlich einen waschechten Cherokee-Indianer…

Anflug von Chaos und Wahn

Überhaupt läßt sich Hoet von Einwänden ungern behelligen. Da wird die neue deutsche Mittellage der ehemaligen Zonenrandgebietsstadt Kassel bejubelt, doch die osteuropäischen documenta-Teilnehmer kann man an einer Hand abzählen. Da zeigt sich Hoet „bewegt, dankbar und tiefglücklich“, ist überzeugt, er habe die schönste documenta aller Zeiten gemacht, denn: „Das jüngste Kind ist immer das schönste.“ Und dann muß er unter dem meckernden Gelächter der versammelten Presse bei der Frage passen, mit welchem Etat man eigentlich wirtschafte. Antwort: Rund 16 Millionen DM.

Doch der sanfte Anflug von Chaos und Wahn, der Hoet umweht, seine entschiedene und durch nichts zu beirrende Subjektivität sowie der riesige Freiraum, den er den Künstlern gelassen hat, haben eine zu großen Teilen wirklich überzeugende Ausstellung bewirkt. Das wird schon bei einem ersten Rundgang deutlich. Von keinem Konzept eingeschnürt, läßt Hoet die ganze Breite heutiger Kunst zu – wenn das einzelne Werk nur Kraft hat.

Außerdem hat Hoet auch nüchterne Einsichten. Der Standardfrage zuvorkommend. warum mehr Männer als Frauen an der documenta beteiligt sind, sagte er, in diesem Punkt interessiere ihn weder Männlein noch Weiblein, sondern nur gute Kunst.

documenta, Kassel. 13. Juni bis 20. September. 10.30 bis 19.30 Uhr täglich / Tageskarte: 20 DM.

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 2 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Kunst & Museen abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.