Die Ratlosigkeit einfach aushalten – Was documenta-Chef Roger M. Buergel über „seine“ Weltkunstschau sagt

Von Bernd Berke

Damit das mal klar ist: Wir alle haben von Kunst keine Ahnung. Nicht nur interessierte Laien, sondern auch das werte Fachpublikum will documenta-Chef Roger M. Buergel (44) mit dessen ästhetischer Ignoranz konfrontieren. Auch sich selbst nimmt der Mann nicht aus. Kurz vor der Eröffnungs-Pressekonferenz, so bekannte er gestern, habe er sich noch einmal ganz ernsthaft gefragt: „Was mache ich hier eigentlich?“

Tja, was? Wie alle seine Vorläufer, so möchte auch Buergel die Weltkunstschau gleichsam neu definieren, als wären wir noch einmal in Gründerzeiten. Alles auf Null! Auf fast sämtliche Stars des Kunstmarktes (rare Ausnahme: Gerhard Richter) hat er verzichtet. Hintergedanke: Große Namen sind Schall und Rauch, sie würden nur vom Wesentlichen ablenken.

Und das heißt für diesen Ausstellungsmacher: Ungeahnte Beziehungen stiften zwischen den verschiedensten Kunstformen, auf dass uns das eine oder andere Licht aufgehe – nicht zuletzt mit politischen Folgen im Sinne einer grundsätzlichen Neubewertung. Die rund 480 Werke, denen somit einige Erwartung aufgehalst wird,  sollen nicht vereinzelt für sich stehen, sondern ihre Wirkungen im Auge des Betrachters vermengen, ja potenzieren.

Künstler, die dem Betrieb den Rücken gekehrt haben

Vorab garniert hat Buergel sein bewusst unscharf gehaltenes Konzept mit wolkigen Begriffen wie „Migration der Formen“ oder „das bloße Leben“. Arg verkürzt gesagt: Hier geht’s um formale Verwandtschaften quer über Kontinente und Epochen hinweg, dort ums völlig ungeschützte, ausgelieferte Dasein in Zeiten der Globalisierung.

In derlei weitherziger Auslegung lässt sich so manche Kunstrichtung unterbringen, gern auch im Rückgriff auf die Tradition – beispielsweise ein persisches Miniaturbild aus dem 14 Jahrhundert, das wiederum mit chinesischen Überlieferungen spielt. Auffällig: Etliche Arbeiten stammen aus den rebellischen 1960er Jahren, bevorzugt von Künstlern, die irgendwann dem Betrieb den Rücken gekehrt haben, um vorwiegend politisch zu arbeiten. Da hört man ‚was trapsen.

Doch vorsichtshalber hat Buergel schon mal ein weiteres Lernziel formuliert: Falls sie nicht aus noch ein wissen, sollen die Besucher eben „das Unentscheidbare aushalten“. Wird gemacht. Aber mal ehrlich: Bildende Kunst hat man in Worten ohnehin noch nie vollends ausschöpfen können. Sonst wäre das ganze Bildermachen ja witzlos.

Die Gefährtin ist als Kuratorin mit dabei

Erstmals wird eine documenta von einem Paar geleitet. Buergel hat seine Lebensgefährtin Ruth Noack als Kuratorin mit an Bord geholt. Sie beide haben erzählt, dass sie sich bei der Vorbereitung gelegentlich heftig gestritten haben. Doch es überwiegen wahrscheinlich die wohltätigen Synergie-Effekte.

Buergel trat gestern übrigens im orangefarbenen Langärmel-Shirt vor die kulturelle Weltpresse, fast hätte man’s für die Farbe eines Sekten-Gurus halten können. Tatsächlich haben Beobachter in der Szene schon vielfach „Pfingststimmung“ ausmachen wollen, sprich: Von dieser documenta erhoffen sich angeblich viele eine Art Erleuchtung.

Ai Wei Wei holt 1001 Chinesen

Noch jede documenta hatte ihre spektakulären „Hauptbilder“. Das Spektrum reicht von Christos“ aufgeblasener „Riesenwurst“ bis zu Jonathan Borofskys himmelstürmendem Mann, von Joseph Beuys` „ 7000 Eichen“ bis zu Walter de Marias in die Tiefe gebohrtem „Erdkilometer“. Was wird es diesmal sein? Vielleicht Peter Friedls ausgestopfte Giraffe (in einem palästinensischen Zoo bei Gefechten verendet). Vielleicht auch die in ästhetischer Absicht gepflanzten Mohn- und Reisfelder. Mit dem roten Mohn hapert’s jedoch noch.

Als Favorit darf jedoch der Chinese Ai Wei Wei gelten, der 1001 Landsleute nach Kassel holt. Bisher ist nur eine kleine Vorhut eingetroffen, Ende Juni kommen die Massen. Sie alle sollen sich in der Stadt umtun und das ihnen so fremde deutsche Leben und Treiben beobachten. Klingt doch spannend.

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HINTERGRUND

Alle fünf Jahre wieder

  • Die Kasseler documenta gilt weltweit als größte und wichtigste Überblicks-Ausstellung zur aktuellen Gegenwartskunst. Seit 1972 kehrt sie im Fünfjahres-Turnus wieder.
  • Die erste documenta gab es 1955. Gründungsdirektor war Arnold Bode, der die Schau 1964 erneut verantwortete. Diesmal heißt der Leiter Roger M. Buergel (Bild).
  • Weitere Leiter mit jeweils ganz eigenen Vorstellungen: Werner Haftmann (1959), ein 24-köpfiger „Kunstrat“ (1968), Harald Szeemann (1972), Manfred Schneckenburger (1977 und 1987), Rudi Fuchs (1982), Jan Hoet (1992), Catherine David (1997) und Okwui Enwezor (2002).
  • Die documenta XII ist ab Samstag, 16. Juni, bis zum 23. September geöffnet, täglich von 10 bis 20 Uhr.
  • Zentrale Ausstellungsorte: Fridericianum, documenta-Halle, Pavillon in der Karlsaue, Neue Galerie.
  • Tageskarte 18 Euro, zwei Tage 27 Euro, Dauerkarte 90 Euro, Schulklasse 6 Euro pro Kopf. Besucherservice / Führungen: Hotline o1805 / 11 56 11.

Fotostrecke: Mehr Bilder von der documenta auf der WR-Homepage

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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