Überall ist Künstlerland – ein Gang durch die Kasseler documenta

Von Bernd Berke

Kassel. In Kassel ist es jetzt so gut wie unmöglich, der Kunst zu entgehen. Die „documenta“ belegt ein ganzes Stadtviertel. Drinnen und draußen stößt man überall auf Kunst – selbst da, wo man es überhaupt nicht erwartet. So sind sogar unscheinbare Eckplätze wie Toilettenzugänge und Aufzüge Ausstellungsflächen geworden, und aus einem Grashügel blickt ein abgefilmtes Auge auf den Betrachter.

Im berühmten Fridericianum, dem würdevollen Zentralbau der documenta, entscheidet sich in der Regel bereits, ob die ganze Sache gelungen ist. Und tatsächlich kann man hier wechselvolle Kunst-Erfahrungen machen wie sonst in vielen Monaten nicht. Es ist ein Überblick im besten Sinne, nur hier und da – an den Rändern – in Beliebigkeit ausfransend.

Einen gewissen Schwerpunkt bilden Arbeiten, die auch Körper-Erfahrungen vermitteln, seien es solche der Angst oder auch der Freude. Da läuft man durch einen ganzen Wald aus Punching-Säcken, die einem heftige Knüffe geben, da gerät man anschließend unversehens in die „Transit-Bar“ der Exil-Tschechin Vera Frenkel und bekommt am Tresen per Videoeinspielung einige Emigranten-Schicksale „kredenzt“. Gleich danach schockiert eine Figuren-Installation, in der ein Gorilla auf einen gefesselten Menschen gehetzt wird.

Doch es gibt auch Ruhezonen – wie jenes begehbare Fach von Louise Bourgeois, in dessen Halbdunkel die Elemente einer Kindheitsgeschichte dämmern, oder Lawrence Carrolls kleine Wand- und Bodenobjekte, die sich vor dem Blick beinahe verstecken wollen und darum desto nachhaltiger wirken. Eine erstaunliche Strategie in dieser verdichteten Konkurrenz der Künstler.

Ein innerer Zusammenhalt

Überhaupt zeichnet es diese Documenta aus, daß die Künstler nicht nur intensiv auf die jeweiligen Bauten und Räume, sondern im Idealfalle auch aufeinander reagiert haben. Das verleiht dieser „Kunst-Olympiade“, allem Pluralismus der Formen und Stile zum Trotz, einen inneren Zusammenhalt.

In der „Neuen Galerie“ und im „Ottoneum“, zwei weiteren documenta-Stätten, wird dies besonders augenfällig. Dort hat man die existierenden Bestände nicht einfach ausgeräumt, sondern mit documenta-Beiträgen innig durchsetzt –in einem Fall wird auf klassische Moderne, im anderen auf naturkundliches Inventar wie etwa ausgestopfte Vögel Bezug genommen; mal bescheiden kommentierend, mal mit weit ausgreifendem Anspruch wie bei Joseph Kosuth, der in der „Neuen Galerie“ fremde Werke mit Tüchern verhängt, auf denen Sätze der abendländischen Geistesgeschichte stehen. Die Worte – so eine mögliche Deutung – haben die Bilder „aufgefressen“, die Deutungen die ursprünglichen Anlässe vernichtet.

Ein ähnlich raumgreifendes Werk hat in der neuen documenta-Halle Mario Merz installiert: ein 50 Meter langes „Gebüsch“ aus Reisigholz, versehen mit magisch leuchtenden Neonzahlen, wie man sie auch aus anderen Werken dieses Künstlers kennt. Sinnlos-selbstvergessen vor hinstampfende Maschinen und Notsignale einer nur noch dürftigen Restnatur – das sind weitere Kunstzeichen in der neuen Halle.

Nur noch leise Hilferufe?

Hier und in anderen Gebäuden taucht denn auch immer mal wieder jene von Jan Fabre gestaltete Hand auf, die sich um einen Notgriff, einen letzten Halt zu klammern scheint. So wäre es also um die Kunst bestellt: daß sie nur noch leise Hilferufe geben kann?

Kein beruhigender Befund also, was des Menschen Körperlichkeit angeht. Und auch Landschaften, so zeigen viele Arbeiten, „gehen“ längst nicht mehr ohne Zersplitterung. Sie kommen nur noch als künstliche Aufbauten und Konstruktionen vor. Oder man läuft durch notdürftig vernagelte, verlassene Endzeit-Stätten wie jenes Holzhüttendorf des Japaners Tadashi Kawamata, das allerdings auf hintersinnige Weise auch ein Stück ökologischer Hoffnung enthält.

In den sogenannten „temporären Bauten“ draußen in der Karlsaue, einer Art Kunst-Eisenbahn mit verschobenen „Waggons“, findet man schließlich auch Beispiele der guten alten Farbfeld-Malerei. Es ist eben dies, was die documenta so spannend und sympathisch macht: daß sie keine Kunstform ausklammert, und zwar nicht nach dem schnöden Prinzip, daß heute eben „alles möglich ist“, sondern indem sie zeigt, daß all diese Stile im Not- und Zweifelsfall wichtig sein können.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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