Ganz leise am Mythos vorbei – zweiteilige Kasseler Erinnerungs-Schau „50 Jahre documenta“

Von Bernd Berke

Kassel. Seit 1955 blüht in Kassel die Kunst. Buchstäblich. Denn die allererste „documenta“, die Arnold Bode damals aus der Taufe hob, war ein Anhängsel der Bundesgartenschau. Ein halbes Jahrhundert ist diese folgenreiche Premiere nun her. Da gilt es, der wechselvollen Historie zu gedenken. Aber wie soll man die bislang elf Ausgaben der Weltkunstschau übergreifend darstellen?

Es ist wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Jede documenta war ja – schon einzeln für sich betrachtet – ein immenses, widersprüchliches, schier uferloses Ereignis. Über 2000 (!) Künstler waren auf mindestens einer documenta vertreten.

Der in Bochum geborene Kurator Michael Glasmeier, eigens von einer Findungskommission bestellt, hat denn auch für die Schau „5O Jahre documenta“ erst gar nicht den Versuch einer Gesamt-Perspektive unternommen, sondern ist seinen Vorlieben gefolgt – mit rund 200 Arbeiten von 80 Künstlern. Logisch, dass Glasmeier nicht die spektakulären Aktionen der documenta-Geschichte wiederholen kann – von Walter de Marias Kasseler Tiefbohrung („Vertikaler Erdkilometer“) bis zu Christos aufblasbarer „Riesenwurst“. Doch der Kurator lässt gar zu viel Bescheidenheit walten, er nähert sich allzu sehr von den Rändern her und beschreitet dabei fast nur Nebenwege.

Das Ruhige und Unscheinbare

In ziemlich willkürlicher Zeit- und Stil-Mischung finden sich nun Kunstwerke, die einst auf irgend einer documenta zu sehen waren, im Fridericianum wieder. Da steht etwa eine Skulptur von Wilhelm Lehmbruck (documenta 1955) nah bei einer Videoarbeit von Bruce Nauman (documenta 1977). Die Werke bleiben einander häufig so fremd. Und vom (durch die Jahrzehnte gewachsenen) Mythos der documenta spüret man kaum einen Hauch.

Gewiss: Wahre „Ikonen“ sind heute schwer zu beschaffen, doch dieser Kurator sucht ohnehin allenthalben das Ruhige, Unscheinbare, eher unterschwellig Wirksame. Selbst Joseph Beuys und Claes Oldenburg wirken hier wie schüchterne Leisetreter.

»Diskrete Energien“ hat Glasmeier seine Auswahl genannt. Tatsächlich summiert sie sich zum eher stillen Gedenken. Sympathisch, dass da einer dem lauten Betrieb abgeneigt ist. Doch es fehlt eben die spezifische Aura. Eine vergleichbare Ausstellung hätte sich wohl auch andernorts ohne jeden documenta-Bezug bewerkstelligen lassen. Die historische Kärrner-Arbeit hat Glasmeier dem documenta-Archiv überlassen, das eine zweite Schau beisteuert: In elf Kojen geht man auf Zeitreise durch die documenta-Phasen.

Vom Geist der Zeit und des Ortes

Bemerkenswert, dass Fotos, Filme und Broschüren aus all jenen Jahren den jeweiligen Zeitgeist im Nachhinein bündiger fassen, als selbst prägnante Kunstwerke dies könnten. Hier geht es nicht so sehr um bestimmte Künstler, sondern um Leitideen, Geist und Design der Gesamtschauen, die von Kuratoren wie etwa Harald Szeemann, Jan Hoet oder Manfred Schneckenburger sehr verschieden geprägt wurden. In den Blick rücken das Atmosphärische, der Geist des Ortes, Skandale und Proteste, Mythen- und Legendenbildung, ja letztlich sogar zeittypische Kleidung und Haartrachten der Besucher. Ach, wie die Jahre vergehen!

„50 Jahre documenta“. Kassel, Fridericianum. Bis 20. November. Di-So 11-18, Mi/Fr 11-20 Uhr. Eintritt 8 Euro. Zweibändiger Katalog 38 Euro. www.fridericianum-kassel.de

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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