Nietzsche und sein „Gast“, Thomas Bernhard und die finale Richtigstellung – Nachtrag zur Dortmunder „Korrektur“-Tagung

Hier noch ein Nachtrag zur Dortmunder Fachtagung übers Korrigieren und seine diversen Weiterungen. Am zweiten Konferenztag ging es u. a. um zwei besonders markante Gestalten der Philosophie- bzw. Literatur-Geschichte: Friedrich Nietzsche und Thomas Bernhard.

Screenshot-Auszug aus der Präsentation von Prof. Justus Fetscher: links ein heftig korrigiertes Typoskript von Thomas Bernhard („Tamsweg“, 1960), das nie in Buchform erschienen ist. (© Suhrkamp / Justus Fetscher)

Haben Sie schon mal den Namen Heinrich Köselitz gehört? Wahrscheinlich eher nicht. In der Fachwelt galt und gilt er vielfach als mediokrer Geist, doch Friedrich Nietzsche setzte einiges Vertrauen in den Mann, dem er diktierte oder Seiten zur Abschrift überließ. Zwar korrigierte Nietzsche dann seinerseits in Köselitz‘ Niederschriften, doch ließ er ihm auch zunehmend recht freie Hand. So veränderte Köselitz hie und da Ausdrücke des Philosophen, dachte sich eigenständig Kapitelüberschriften aus und begriff sich schließlich selbst als eine Art „Editor“ oder Ko-Autor mit der Lizenz zum Mitschreiben.

Stavros Patoussis (Saarbrücken) und Mike Rottmann (Freiburg / Halle-Wittenberg) legten anschaulich dar, welchen Einfluss Köselitz auf die Textgestalt mancher Nietzsche-Werke hatte bzw. gehabt haben könnte. Die Forschung dazu ist noch lückenhaft, es sind noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

Der Unterschied zwischen Autor und Schriftsteller

Nietzsche selbst schrieb im Zusammenhang mit dem Buch „Menschliches, Allzumenschliches“, er sei zwar der Autor (also Urheber), Köselitz aber sei gleichsam der Schriftsteller, zuständig für manche stilistische Feinheit. Fraglich allerdings, inwieweit man alles für bare Münze nehmen muss, was Nietzsche so von sich gegeben hat – nicht nur in Sachen Korrekturen. Dass ihm die Form ungemein wichtig war, ist indes ausgemacht. Der Stil war nach seiner Auffassung keineswegs sekundär, sondern essenziell fürs gesamte Gedankengebäude. Demnach hätte Köselitz (von Nietzsche übrigens „Peter Gast“ genannt) also auch inhaltliche Prägekraft entfaltet. Ein durchaus spannender Diskussionsansatz.

Bemerkenswert, wie auf solche Weise Nietzsches Bild als Originalgenie auf einsamer Geisteshöhe denn doch etwas zurechtgerückt wird. Er bediente sich eines ganzen Netzwerks von Zu- und Mitarbeitern. Vielleicht bringen uns solche Erkenntnisse den Philosophen sogar wieder etwas näher. Es könnte nicht schaden.

„Herumfuhrwerken“ in den eigenen Texten

Zeitsprung zu Thomas Bernhard, dessen korrigierendes „Herumfuhrwerken“ in eigenen Hervorbringungen geradezu manisch gewesen sein muss. Justus Fetscher (Germanist an der Mannheimer Uni) zeigte dazu einige Bernhardsche Korrekturfahnen im Faksimile. Da offenbart sich ein gehöriges Schriftchaos. Zuweilen strich Bernhard ganze Passagen, bis nur noch ein Halbsatz übrig blieb, der dadurch aber insgeheim mit viel mehr Bedeutung aufgeladen wurde. Es sind Lehrbeispiele zur möglichen Wirkung radikaler Kürzungen, die ja auch einen (häufigen) Sonderfall des Korrigierens darstellen.

Es bedurfte schon eines legendär duldsamen und auch den schwierigsten Autoren in besonderer Weise zugeneigten Verlegers wie Siegfried Unseld (Suhrkamp), um Bernhards Marotten zu ertragen oder sie gar ins Ertragreiche zu wenden.

In letzter Minute fertige Bücher zurückgezogen

Zuweilen konnte Bernhard das Erscheinen seiner Bücher nicht schnell genug gehen, sie sollten dann nur noch flüchtig lektoriert werden, da gab sich der Autor ungeahnt nonchalant. Justus Fetscher sagte, er selbst habe als junger Suhrkamp-Hospitant einen solchen Fall erlebt. Berüchtigt war Bernhard freilich für das umgekehrte Vorgehen: Immer mal wieder zog er Bücher, die schon fertig gesetzt waren, in den Vorschaukatalogen standen und vom ambitionierten Buchhandel sehnlichst erwartet wurden, quasi in letzter Minute zurück. Das kostete im Verlag nicht nur Nerven, sondern auch bares Geld.

Zu solchen Rückziehern dürfte Bernhard auch ein Gefühl des Ungenügens bewogen haben. Seine Korrekturseiten legen ja beredtes Zeugnis ab vom prinzipiell unendlichen Änderungs-Bedarf. Die drangvoll eng beschriebenen Blätter wirken zuweilen wie eine Prüfung auf maximal mögliche Seitenkapazität, die über und über gehämmerten Buchstaben-Anschläge durchlöchern oder zerfetzen an so manchen Stellen das Papier. Fast möchte man von „Anschlägen“ im doppelten Sinne sprechen. Das Schriftbild anderer Seiten ergibt, mitsamt den überschriebenen, gestrichenen und verworfenen Stellen, ein ruhigeres, nahezu graphisch wirkendes Bild, Justus Fetscher fühlte sich an „Frottagen“ erinnert, wie sie etwa Max Ernst geschaffen hat.

Fortwährende Korrektur als Stundung des Todes

Es konnte sich nicht besser zum Tagungsthema fügen: Thomas Bernhard hat einen Roman mit dem Titel „Korrektur“ verfasst. Auch darin geht es um unaufhörliches Korrigieren des Korrigierten – prinzipiell ad infinitum. Fortwährend erstellte, immer neue Versionen erweisen sich dabei als Aufschub und Stundung des Todes. Solange man korrigiert, lebt man. Letztlich aber reicht diese wahnwitzige Praxis – im Leben wie im Roman – eben nicht bis in die Unendlichkeit. Und so besteht die finale „Korrektur“, so eine Bernhardsche Denkfigur, im Selbstmord des Protagonisten Roithamer, der in einigen Wesenszügen dem Philosophen Ludwig Wittgenstein nachempfunden ist.

Die Schlussdiskussion der Tagung habe ich mir nicht mehr ansehen können. Auf jeden Fall hat diese Konferenz ein bislang unterschätztes, im Grunde aber höchst bedeutsames Themenfeld aufgetan. Korrekturen, ob von eigener oder fremder Hand, stehen geradezu im Mittelpunkt nicht nur des kulturelles Tuns und Trachtens.

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 37 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Buchmarkt & Lesen, Literatur, Philosophie, Schule, Uni, Bildung, Sprache, Stilfragen, Wissenschaft abgelegt und mit , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Nietzsche und sein „Gast“, Thomas Bernhard und die finale Richtigstellung – Nachtrag zur Dortmunder „Korrektur“-Tagung

  1. Josef König sagt:

    Nur kurz eine Anmerkung zu Bernhards Roman „Korrektur“, der so etwas wie ein Zentrum meiner Diss ausmacht: Das eigentlich pikante hat leider Fetscher nicht erwähnt: Die Figur Roithamer begeht Selbstmord, aber der Erzähler, der den Roman und seine Beziehung zu Roithamer behandelt, erlebt einen Moment an völliger Unachtsamkeit und Vernichtung, dass ihm alle Blätter von Roithamers Nachlass hinunterfallen und völlig durcheinander geraten, so dass er sie gar nicht mehr ordnen kann. Er stopft sie schließlich in Schubladen. Das ist eine fast irrwitzig-parodistische Ironie im Roman, die wiederum Fetscher Aussagen zum großen Teil relativiert.

  2. Andreas Lichte sagt:

    @ Bernd Berke

    Danke!

    ging ja wirklich schnell …:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Originalgenie

    Ich möchte aber vorschlagen – hoffentlich im Sinne Dubuffets:

    „Ein ‘Originalgenie’ ist ein Einhorn mit zwei Hörnern.“

    ( schade, dass ich Karl Kraus nicht fragen kann, ob er dem zustimmt )

  3. Bernd Berke sagt:

    @Andreas Lichte
    „Originalgenie“ ist nun wirklich – spätestens seit den Zeiten des „Sturm und Drang“ – ein eingeführter Begriff der Geistesgeschichte. Sie können Einzelheiten dazu vielfach nachlesen.
    Nietzsche ist im Gefolge dieses Begriffes häufig als ein eigenmächtiger „Gesetzgeber“ wahrgenommen worden, hat sich wohl auch selbst so begriffen.
    Im Beitrag geht es aber gerade darum, dass er von diesem Sockel heruntergeholt wird, allerdings nicht unbedingt im egalitären Sinne von Jean Dubuffet.

  4. Andreas Lichte sagt:

    @ Bernd Berke

    können Sie mir mal gerade schnell erklären, was ein „Originalgenie“ sein soll?

    Etwas noch Angsteinflössenderes als ein „Genie“? Jean Dubuffet:

    „Es gibt keine großen Menschen mehr, keine Genies. Nun sind wir endlich von diesen Schneiderpuppen mit dem bösen Blick befreit: Sie sind eine Erfindung der Griechen, wie die Zentauren und die Greifen. Ebensowenig Genies wie Einhörner. Drei Jahrtausende hatten wir dermaßen Angst davor!

    Die Menschen sind nicht groß. Der Mensch an sich ist groß. Wunderbar ist nicht, ein außergewöhnlicher Mensch zu sein. Sondern ein Mensch zu sein.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert