„Tamerlano“ gehört nicht zu den erfolgreichsten Opern Georg Friedrich Händels. Für die Eröffnung der Saison am King’s Theatre im Oktober 1724 mutete er dem Londoner Publikum ein ungewöhnlich düsteres Werk zu.
Schon die Tuttischläge zu Beginn der Ouvertüre melden von hoher Tragik. „Schwarze“ Tonarten, dunkle Farben in den Streichern: Musikalisch kündigt sich eine Geschichte an, die den Intrigenstadl der zeitgenössischen italienischen Oper durch ihre Radikalität übertrifft. Tamerlano ist ein Herrscher, den keine Moral zu zügeln vermag; sein Gegenspieler Bajazet so stolz, dass er jedem Kompromiss den Tod vorzieht. Und der Irrtum, der Asteria an der Liebe von Andronico zweifeln lässt, ist auf eine fast schon absurde Weise schwach begründet.
Für Händel sind solche extremen Bühnenfiguren eine Herausforderung, die er musikalisch glänzend pariert. „Tamerlano“ beinhaltet eine Reihe ausdrucksstarker Arien; die Selbsttötung Bajazets inspirierte ihn zu einer Szene, die musikalisch einzigartig ist und heute noch unter die Haut geht. Vor allem dann, wenn ein so erfahrener Gestalter wie Placido Domingo sich dieses mehrschichtigen Charakters annimmt. Domingo war wohl der „Star“, der das Publikum in die beiden konzertanten Aufführungen von „Tamerlano“ bei den Salzburger Festspielen locken sollte. Denn fast vier Stunden Opernmusik ohne Szenerie sind selbst für beharrliche Hörer eine Zumutung, der sich ein Händel-Zeitgenosse vor 300 Jahren sicher nicht unterworfen hätte.
Zum Glück halten sich weder Domingo noch die anderen Sänger an historisch informiertes Zirpen, sondern bieten saftig durchblutete Opernmusik. Im Falle Domingos bedeutet das einen immer noch kernig glänzenden Klang, einen meisterlich gestützten Ton, beherrschte Farben und – vor allem in der bewegenden Todesszene – beispielhaftes Abschattieren und suggestive Rhetorik. Das Vibrato ist – wie sollte es auch anders sein – nicht mehr so kontrolliert und spannkräftig wie früher. Durch die Koloraturen mogelt sich Domingo mit erfahrungsgesättigtem Geschick, solidarisch getragen von Marc Minkowski am Pult seines Orchesters „Les Musiciens du Louvre“. Wie Domingo aber einen Charakter musikalisch erfasst und durchdringt, hat ein nach wie vor selten erreichtes Format.
In Bejun Mehta hat er einen würdigen Gegenspieler: Als Tamerlano zieht der amerikanische Counter alle Register, um die Leidenschaften dieses Herrschers einzufangen, der in Liebe wie Hass kein Maß akzeptiert: Hohn, Erniedrigung, Sklaverei und sexuelle Gewalt hat er für die bereit, die seinen egomanischen Leidenschaften nicht folgen wollen. Mehta muss Affekte wie Überschwang, Stolz, Wut, Kränkung ausdrücken: seine gut gebildete Stimme bringt dafür Brillanz, Schlagkraft und Agilität mit. Zwar muss Mehta in der Höhe manche Töne „antippen“ und nicht jede Messa di Voce gelingt abgerundet; dennoch gehört er derzeit zu den führenden Vertretern des Fachs und kann diese Position mühelos verteidigen.
Franco Fagioli zieht als Andronico leider nicht gleich: Die Partie, für den legendären Kastraten Senesino geschrieben, will nicht durch prunkvolle Virtuosität brillieren. Sie lässt dem Sänger eher die Chance, die Schönheit und Ebenmäßigkeit des Tons in allen Lagen, aber auch die Beherrschung des „passaggio“ und die Fülle des tiefen Registers zu demonstrieren. Fagiolis Mezzo kann vor allem in der Tonbildung nicht mehr überzeugen: Das Vibrato ist zu dominierend, der Ton wirkt hohl und schwammig, die Artikulation leidet. Seine an Grimassen grenzende Mimik ist wohl kaum gewollt; sie zeigt, wie der Sänger um die Position seiner Stimme ringt. Der kleinen Rolle des Leone gibt Michael Volle ein präsentes, technisch abgesichertes Profil.
Ausgezeichnete besetzen konnte Salzburg die Frauenpartien: In der Partie der Asteria, geschrieben für die legendäre Primadonna Francesca Cuzzoni, ließ die erst 22jährige Julia Lezhneva kaum einen Wunsch offen. Ob funkelnde Brillanz oder wehmutsvolle Innerlichkeit, ob Bangigkeit oder Beklemmung: Lezhneva findet stets die richtige Farbe, die passende Phrasierung. Ihre beiden Arien im ersten Akt mit ihren uneindeutigen Affekten, ihren zwischen Leid, Liebe, Hass und Verachtung schwankenden Gefühlen, stellt sie musikalisch differenzierend dar. Dazu dienen ihr eine kostbar timbrierte Mittellage, sanft gedrosselte Mezzavoce, tadellose Piani.
Lezhneva hat ein entspanntes Legato, kann aber auch impulsiv akzentuieren. Nur die Höhe wirkt technisch fragwürdig: zu oft bildet sie die Töne am flachen Gaumen, statt ihnen Stütze und Rundung zu geben. Dennoch: Lezhneva, vom Magazin „Opernwelt“ zur Nachwuchssängerin des Jahres 2011 gekürt, ist mit Recht eine der großen Hoffnungen im belcantistisch geprägten Sopranfach. Die Französin Marianne Crebassa bietet ein ebenso überzeugendes Rollenporträt der Irene: Die fremde Prinzessin ist Tamerlano als Braut versprochen, doch der Tatar setzt sie lediglich als Manövriermasse der Liebe ein, um Andronico für sein Wohlverhalten zu belohnen. Händel macht die Figur spannend, weil er Irene nicht als passives Opfer zeigt, sondern als selbstbewusste Frau, die nicht geneigt ist, die Spiele der mächtigen Männer über sich ergehen zu lassen. Ihr Mezzosopran ist kraftvoll, geschmeidig, expressiv und nur hin und wieder von zu üppigem Vibrato überlagert.
Les Musiciens du Louvre aus Grenoble, das vor 30 Jahren von Marc Minkowski gegründete Orchester, hatte wesentlich Anteil daran, den langen Abend nicht zu lange erscheinen zu lassen. Minkowski bot einen dunkel getönten Händel-Klang, der sich signifikant von der basislosen Brillanz manch englischer oder deutscher „Originalklang“-Ensembles abhebt. Bei aller Präzision und Transparenz verleugnet er nicht, dass Händel, wenn ihm die Möglichkeiten geboten waren, üppige Besetzungen für substanzreichen, festlichen Klang bevorzugte. Manchmal litten die Bläser; selbst die Trompete von Hara Fruzsi musste sich bemühen, mehr als eine Orchesterfarbe abzugeben. Minkowski reagierte jedoch stets umsichtig; dämpfte zum Beispiel die Streicher reaktionsschnell in der aparten, von zwei Flöten begleiteten Arie der Irene. Die abwechslungsreiche Klanggebung und Phrasierung des Ensembles, das über Jahre hin gewachsene Einverständnis mit dem Dirigenten, die Balance innerhalb des Ensembles und die flexiblen Tempi trugen dazu bei, Händels Musik auch über lange Zeit hin spannend zu halten.