Niedergetanzter Todesschmerz – Ariane Mnouchkines Antiken-Projekt endete (vorläufig) mit „Les Choéphores“

Von Bernd Berke

Essen. Nach drei Abenden bei Ariane Mnouchkines Antiken-Projekt geht es einem fast wie jenem von Lichtenberg verspotteten Bücherwurm: „Er schrieb immer Agamemnon statt angenommen, so sehr hatte er seinen Homer gelesen.“ So sehr also hat man fasziniert zugesehen beim Antiken-Projekt.

Den Abschluß bildeten am Mittwoch „Les Choéphores“ (etwa: die Opfernden) von Aischylos. Kurzinhalt: Orest und Elektra üben Rache an ihrer Mutter Klytämnestra, die zuvor Agamemnon getötet hat. Hier war er wieder zu sehen, der Furor dieser außerordentlichen Inszenierung; mit dem wirbelnden Chor, der allen Todesbotschaften trotzt: zertanzte Worte, niedergetanzter Schmerz. Am Ende noch eine Szene von furchtbarer Kraft: Ein Bett mit den blutigen Leichen von Klytämnestra und ihrem Liebhaber Aigisthos, zuvor auf die Bühne gezerrt, „klebt“ gleichsam wie ein Schuldzeichen am Boden. Mit aller Anstrengung kann der Chor es dann zentimeterweise wegschieben.

Am zweiten der drei Abende, der Aischylos‘ „Agamemnon“ gewidmet war, konnte man — nach dem zuvor doch so grandiosen Auftakt mit „Iphigenie“ (die WR berichtete) – ins Zweifeln geraten. Es war irritierend: Vieles, was die „Iphigenie“ so sehr ausgezeichnet hatte, schien hier seine Schattenseiten hervorzukehren. Das begann mit dem Chor, der im „Agamemnon“ nun einmal aus Greisen zu bestehen hat und nur über die Bühne schlich. Auch die frontale Spielweise geriet nun manchmal an ihre Grenzen; sie erwies sich, da dieses Stück über weite Strecken nur monologisch aufgebaut ist, hier als beinahe zwanghaft.

Zudem wurde am zweiten Abend erkennbar, daß sich viele Elemente wiederholen. Teilweise ist es Verdichtung, teilweise nur Verdoppelung. Da keimt auch der Verdacht, daß die Musik nicht etwa leitmotivisch auf die Texte verteilt wird, sondern nach einem Streuprinzip.  Bestimmte Tanzrhythmen, Schritt- und Bewegungsmuster ziehen sich durch alle drei Abende, als habe man ein gleichmäßiges Ornament über den gesamten Text legen wollen.

Vielleicht ist dies ja auch ein aus Ängsten geborenes Theater. Angst vor Stille, daher die unaufhörliche Musik; Angst vor den Blicken der Zuschauer, weshalb man sie durch frontale Spielweise zu bannen sucht. Paradox beim ständigen Blickkontakt mit den Darstellern: Die Stilisierung rückt das Geschehen weit von uns ab, man fühlt sich als Zuschauer beinahe verlassen.

Oder bringt man als Europäer nur nicht die notwendige „asiatische Geduld auf? Können wir mit der schlichten Übergroße antiker Gefühle nicht mehr umgehen? Und muß man nicht überhaupt diese drei Teile im innigen Zusammenhang sehen, so daß sie sich zueinander verhalten wie Versprechen, Verweigerung und Erfüllung oder wie die drei Sätze einer Sonate? Was heißt drei Sätze: Die Truppe plant ja als Abschluß einen vierten Teil, „Die Eumeniden“. Wahrscheinlich erschließen sich viele Dinge erst dann, von ihrem Ende her.

Das auch für die weiteren Vorstellungen ausverkaufte Gastspiel beim „Theater der Welt“ — mit der „Iphigenie“ als Anfangs- und Höhepunkt — war ein großes, dann auch verstörendes Erlebnis, das im Theateralltag gewiß unterschwellig nachwirken wird. Welche Bühne kann mehr?

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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