Das Theater schöpft aus seinen Urquellen – Ariane Mnouchkines grandiose „Iphigenie“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Man stellt uns eine ganze Welt vor Augen, aber man macht uns nichts vor: Ariane Mnouchkine und ihr „Théâtre du soleil“ haben Euripides‘ „Iphigenie in Aulis“ der Atriden-trilogie des Aischylos vorangestellt und so entschieden stilisiert, daß kein Zweifel bleibt: Dies ist nicht das Leben, dies sind lauter Zeichen; dies ist Theater reinsten Wassers, das aus seinen ältesten Quellen schöpft. Und es ist d a s Bühnenereignis des Jahres im Revier, Welttheater in vollen Sinne beim Festival „Theater der Welt“.

Kein Anflug von Naturalismus. Bevor man das Zuschauerpodium in der Gruga-Messehalle 4 betritt, sieht man unter dem Gerüst die Schminktische der Schauspieler und Garderoben-Inventar. Das Theater zeigt seine Mittel vor. Sodann agieren die Schauspieler frontal zum Publikum hin, mit überdeutlichen Gesten und so geschminkt, daß kleinste Regungen — wie etwa angstvoll geweitete Augen — weithin sichtbar sind. Auch die Sprache (Französisch) ist außerordentlich klar, gelegentlich an der Grenze zur Deklamation.

Das um 415 v. Chr. geschriebene Drama der „Iphigenie“ des Euripides ist in seinen Grundzügen, in seiner ergreifend grandiosen Geradlinigkeit rasch erzählt: Die Griechen wollen gen Troja ziehen, um die geraubte Helena zurückzuholen. Doch die Göttin Artemis verhindert das Auslaufen der Kampfschiffe durch Gegenwind. Das kann sich nur ändern, wenn der Griechenherrscher Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfert. Ob er dem kriegslüsternen Heer Genüge tun oder seine Tochter retten soll, ist die Frage, die Agamemnon umtreibt.

Die Szene, aus einfachen Holzbrettern gebaut, mag ein antiker öffentlicher Platz sein, vielleicht auch ein orientalischer Platz, auf dem jederzeit ein wortreicher Geschichtenerzähler auftreten, auf dem überhaupt das Erstaunlichste passieren kann. Vor allem aber gleicht sie einer Stierkampfarena, mit Schlupflöchern in den Banden, hinter denen der zu wundervoll tänzerischer Leichtigkeit gebrachte Chor behende immer dann verschwindet, wenn es ernst wird.

Auf dem Platze selbst geschieht das unaufhaltsam Bedrohliche, wird über Tod, Krieg und Opfer verhandelt. Gegen Schluß tritt – Zutat, die Euripides‘ versöhnliches Finale zunichte macht — gar der blutbespritzte Schlächter an die Rampe, der das Opfer vollzogen hat. Zuvor sahen wir ein in seiner sanften Macht kaum zu übertreffendes Theaterbild, als Iphigenie von unsichtbarer Hand langsam auf einem hohen weißen Wagen hinausgefahren wurde und dazu eine haarfeine Todesmusik erklang. Einen ähnlichen Schauer jagt es einem am Ende über den Rücken, wenn der Beginn des Krieges bei verlöschendem Licht durch bloßes Hundegebell aus den Lautsprechern angezeigt wird.

Ein Großteil der Bühne wird durch eine Batterie von eigens entwickelten Musikinstrumenten eingenommen. Von ferne gesehen wirken sie, passend zum Seekrieg, wie eine Schiffsflotte. Das ganze Spiel ist denn auch mit Musik (Jean-Jacques Lemêtre) unterlegt, einer mal trommelnd treibenden, mal sphärischen „Weltmusik“ mit Anleihen vor allem aus Asien. Überhaupt sammelt die Inszenierung die Zeiten und Kulturen gleichsam ein, als wolle man zu einer allen gemeinsamen Ursprache zurückfinden. Da kommt das Theater ganz zu sich.

Zehnminütiger, fast rasender Beifall — natürlich auch für die Schauspieler. Von ihnen sei ungerechterweise nur die kaum vergleichliche Nirupama Nityanandan als Iphigenie genannt: Eine wahrhaftige „Erscheinung“, die zwischen Todeangst und triumphalem Todesjubel mehr in den Fingerspitzen hat als andernorts Darsteller im ganzen Leibe.

Über die folgenden Mnouchkine-Abende („Agamemnon“, „Les Choéphores“) demnächst mehr.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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