Von Bernd Berke
Wer Ingomar von Kieseritzkys heimlichen Bestseller, die irrwitzige Katastrophen-Enzyklopädie „Das Buch der Desaster gelesen hat, wird – da gibt es wohl kaum einen Mittelweg – diesen Autor entweder herzhaft hassen oder begierig zu seinem nächsten Buch greifen: „Anatomie für Künstler“ heißt es und ist wiederum so schnoddrig-zynisch geschrieben wie der ; Vorläufer. Mitleidlos-medizinischen Blicks, sieht der Autor die Welt gleichsam an wie ein krankes Organ.
Es geht buchstäblich ums Irresein. Kieseritzkys „Held“ und Ich-Erzähler Marun sitzt in der Gummizelle einer Anstalt. Mit Medikamenten vollgepumpt, kaum noch denkfähig, aber noch nicht lendenlahm und also ständig in bitter-komischen Sexualnöten, macht der Ex-Antiquitätenhandler sich ans Schreiben von Briefen und Eingaben, ans Ausfüllen idiotischer Fragebogen der Psychiater usw. Aus solchen Schriftstücken bestehen große Teile des Buchs. Man ahnt zunächst nur: Der Mann muß kürzlich eine ganz fürchterliche Mordserie auf einem Treffen hochkarätiger Wissenschaftlern „hingelegt“ haben. Er selbst kann sich an kaum etwas erinnern.
Von seinen Versuchen, die Sache irgendwie zu rekonstruieren, handelt „Anatomie für Künstler“ (dessen Titel auf Seite 136 „erklärt“ wird). Immer wieder kreisen Maruns lüsterne Gedanken und die treulose Ex-Gespielin Laura, aber auch um einen mehr als spleenigen Onkel in England sowie einige exzentrische Freunde, die den Kultursektor mit abstrusen Elaboraten bedienen.
Durch Briefwechsel und Erinnerungs-Partikel findet allmählich die Welt Einlaß in die Zelle, bzw. die Zelle weitet sich zur bizarren Weltansicht. Und wir fragen uns: Ist denn diese Welt etwa eine einzige geschlossene Anstalt, von lauter Verrückten bevölkert?
Kieseritzky. macht jedenfalls aus menschlichen Leiden und Wahn-Systemen die pure Groteske; er kommt bei seinen Schilderungen ohne jedes erkennbare Mitleid und ohne jede „Moral“ aus, liefert elende Szenen laufenden Irrsinns gleichsam roh und „nackt“. Auch ist er ein Meister der fröhlichen Abschweifung, darin würdiger Nachfahre eines Laurence Sterne. Die Themen-Mixtur sorgt für zündende Kontraste – und für plötzlich auflodernde Erhellungen, so etwa, wenn pornographische Gewaltphantasien mit der Sprache der KZ-Schergen „kurzgeschlossen“ werden.
Als begnadeter „Chaosforscher“ entwirft Kieseritzky ständig neue und absurde Stichwort-Listen und Systeme – ein Spiel mit zwangsneurotischen Gedankenmustern. Sprachlich durchmißt er dabei alle Höhen und (Un-)Tiefen.
Ingomar von Kieseritzky: „Anatomie für Künstler“. Roman. Klett-Cotta Verlag, 234 Seiten, 36 DM.