Gegen die Herrschaft des Todes schreiben – Elias Canetti wird 85

Einer der letzten Schriftsteller mit universalem Gepräge: EIias Canetti überzeugt als Romancier ebenso wie als Essayist („Das Gewissen der Worte“), als Dramatiker („Die Hochzeit“) ebenso wie als Theoretiker – und das nicht nur im geisteswissenschaftlichen Bezirk: „Man kann heute nicht mehr schreiben, ohne etwas von Naturwissenschaften und Technik zu verstehen“. Heute wird der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1981, der 1975 auch den Dortmunder Nelly-Sachs-Preis erhielt, 85 Jahre alt.

Aufklärer im umfassenden Sinn, gehört er zu den Autoren, zu denen man schon nach wenigen Seiten Vertrauen fassen kann, so daß man geneigt ist, ihm auch durch gewagte Gedankengänge zu folgen. Ein höchst empfehlenswerter „Einstieg“ in sein Werk ist das 1987 erschienene Buch „Das Geheimherz der Uhr“ – genauer als in dieser aphoristischen Sammlung kann man mit Sprache schwerlich umgehen.

Ein Hauptwerk ist die Studie „Masse und Macht“ (1960), an der Canetti 35 Jahre lang gearbeitet hat und die bis heute Standardwerk zum Thema Massenwahn ist. Beispiel für seine provozierenden Thesen: Canetti bringt hier die notorische Vorliebe der Deutschen für den Wald (ein Stamm stramm neben dem anderen) mit dem Hang zum „Soldatischen“ in Verbindung.

Unglaublich spät, erst in den 60er Jahren, wurde Canetti von einer breiteren Leserschaft wahrgenommen. Dabei hatte er bereits 1936 mit dem Roman „Die Blendung“ ein geradezu bestürzend eigenständiges Schreckenspanorama entworfen. Das Buch nötigte sogar Thomas Mann Achtung ab und kann in einem Atemzug mit Franz Kafkas Romanen genannt werden. Kafka, Karl Kraus, Robert Musil und Hermann Broch sind Canettis literarische „Wahlverwandte“; seine ins Satirisch-Groteske ausgreifende Montage-Technik („präzise Übertreibung“) hat aber auch Entsprechungen in der bildenden Kunst, etwa bei George Grosz.

Steter Widerstand gegen die Zeit und Revolte gegen die Herrschaft des Todes sind zentrale Themen bei Canetti, er selbst sprach vom „Gegentraum gegen die Zerstörung“. Eben jene Zeitumstände zwangen ihn zu einem ruhelosen Leben in halb Europa: Er wurde 1905 in Rustschuk (Bulgarien) als Sohn spanisch-jüdischer Eltern geboren. 1911 übersiedelte die Familie nach Manchester. Nach dem Tod des Vaters ging er mit Mutter und Bruder 1913 nach Wien, lebte von 1916 bis 1921 in Zürich, ging dann bis 1924 in Frankfurt zur Schule, studierte in Wien Chemie. Er promovierte zum Doktor der Philosophie und emigrierte 1938 über Paris nach London. Dort und in Zürich wohnt er seitdem als freier Autor. Seit Entgegennahme des Nobelpreises lebt er völlig zurückgezogen.

Eine Lebensbilanz, die zugleich eine Bilanz des Jahrhunderts ist, zog Canetti in seiner Trilogie „Die gerettete Zunge“ (1977), „Die Fackel im Ohr“ (1980) und „Das Augenspiel“ (1985). Am vierten Band der Autobiographie arbeitet er ebenso wie an einer Fortsetzung von „Masse und Macht“.

Trotz seiner schlimmen Erfahrungen mit dem „Dritten Reich“ verfaßt Canetti seine Bücher in deutscher Sprache, die er mit acht Jahren unter strenger Anleitung seiner Mutter lernte: „Es war eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Mutter-Sprache“, bekannte er später. Und 1944 (!) schrieb er aus dem Londoner Exil: „Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar, weil ich Jude bin“.

                                                                                                                    Bernd Berke

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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