Von Bernd Berke
Essen. So wie er im Buche steht, ist Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ längst unspielbar. Und so entledigt sich denn auch Hansgünther Heymes „Tell“ (Walter Kreye) solch güldener Worte wie „Durch diese hohle Gasse muß er kommen“, ganz hastig, als lasse er eine heiße Kartoffel fallen.
Der „Tell“ verfolgt Heyme seit Mitte der 60er Jahre, zunächst in Wiesbaden, dann nach Stuttgart, jetzt bis nach Essen. Oder besser: Heyme verfolgt den „Tell“, und zwar mit Kardinalfragen aus der neueren deutschen Geschichte. Unerbittlich.
Schon bei Schiller stand ja jener Kampf der Schweizer Kantone gegen Habsburg für deutsches Mißbehagen an französischer Besatzung im Vorfeld der Befreiungskriege. Heyme verpflanzt die Handlung ins Jahr 1923, als abermals Franzosen über den Rhein kamen und diesmal das Ruhrgebiet besetzten, um sich verweigerte Reparationsleistungen zu sichern. Bei Heyme geht das anfangs nach Art des „Grand Guignol“: Wie in einer Art Kasperltheater bespringt der gallische Hahn die blonde Germania, nach dem Gewaltakt galoppieren Marionettenpferdchen auf, es züngeln Flämmchen aus Pappe.
Zur Ruhrkampf-Zeit war „Tell“ im Revier eine Symbolfigur des Widerstands. Heyme wiederum will, was bis zu einem gewissen Grad legitim ist, zeigen, daß reaktionäre Kräfte diesen Widerstand ins Nationalistische umbogen, wodurch der NS-Ideologie der Boden bereitet wurde. Ob man all dies unbedingt an Schillers Stück demonstrieren muß, bleibt die Frage.
„Tausendjähriges“ Volkserbe und „Heil“-Rufe
Aus den verschiedenen Zeit-Ebenen ergibt sich auf der Bühne des Essener Grillo-Baus eine historische Collage, die mitunter ausfranst, zum „Flickerlteppich“ wird. Heyme mag die von Schiller positiv besetzten Freiheitskämpfer durch Streichungen und neue Betonungen noch so sehr ins Zwielicht zerren, er mag noch so nachdrücklich Satzfetzen wie die vom „tausendjährigen“ Volkserbe oder „Heil“-Rufe (die ja im Stück vorkommen) hervorheben – direkte Parallelen ergeben sich nur punktuell; wo Heyme mehr will, wirkt es zwang- und thesenhaft. Freilich: Reibflächen produktiven Widerspruchs hat Heyme dem Klassiker abgewonnen. Einige Aha-Erlebnisse kommen aber allzu früh und fraglos: Der Bühnenhintergrund ist schwarz-weiß-rot; also die Farben der Deutschnationalen und der NS-Fahnen. Damit’s überdeutlich wird, gleicht das rote Feld einem Blutspritzer.
Tell ist hier der brav-blauäugige Proletarier, äußerlich von Brecht’schem Zuschnitt. Auch Heyme kann Arbeiterposen nur noch ironisch zeigen, sozialistischen Realismus parodierend. Tell ist letztlich bloßes Werkzeug der Besitzenden, die bei der bündischen Sonnenwendfeier des Rütli-Schwurs die Widerstands-Fäden ziehen – allen voran der wohlhabende Stauffacher, der hier Krupps Rolle im Ruhrkampf durchscheinen lassen muß. Teil hat folglich „blaß“ und ausnutzbar zu erscheinen, Vogt Geßler (Michael Enk) kommt als eher trockener Funktionär daher, der „edle“ Attinghausen (Karl-Heinz Pelser) als Altgeneral aus preußischem Junkertum. Der im Stück ausdrücklich als Biedermann bezeichnete Stauffacher ist hingegen Brandstifter. Dies zu zeigen, gelingt dem weitaus besten Darsteller, Wolfgang Robert, mit beachtlicher Nuancierung.