Rückzug in die Vorhölle – Heinz Strunks Roman „Ein Sommer in Niendorf“

Vom Leben enttäuschter Mann, gestandener Jurist in seinen Fünfzigern, zieht sich für einige Zeit nach Niendorf/Ostsee zurück, um nach Bandaufzeichnungen eine Abrechnung mit seiner Familiengeschichte aufzuschreiben. Ist solch ein Plot, oftmals gehabt, nicht gewöhnlich und langweilig? Halt! Nicht, wenn sich einer wie Heinz Strunk („Fleisch ist mein Gemüse“, „Der goldene Handschuh“) der Sache annimmt.

Vor allem die (zahlreichen) Passagen, in denen Strunk sozusagen kanisterweise Unmut abfüllt und ausgießt, haben es mal wieder in sich. Just aus der kapitalen Ödnis des überwiegend von urlaubenden Senioren bevölkerten Ortes lassen sich herrlich ergiebige Szenen destillieren. Wenn man es kann…

So zieht der misanthropische Ich-Erzähler Roth vor allem mit Tiraden gegen das schmierig-saufsüchtige Faktotum namens Breda vom Leder, dessen Zugriff er sich freilich nicht entziehen kann. Dieser verkommene Trunkenbold verwaltet mehr schlecht als recht einige Ferienwohnungen, betreut Strandkörbe und betreibt ein Schnapslädchen, in dem er selbst bester Kunde ist. Dazu noch Bredas adipöse Freundin Simone. Bizarr, bizarr…

Doch bringt ihn wenigstens Melanie, jenes „späte Mädchen“ vom einstigen One-Night-Stand, das sich eines Tages wieder meldet, wieder auf andere Gedanken? Im Gegenteil, er versucht ihr auf jede erdenkliche Art auszuweichen. Als sie dann noch Fischbrötchen vertilgt, ist die Schwelle des Widerwillens vollends überschritten. Dennoch wird der missliebige Geschlechtsakt vollzogen. Lustloser geht’s nimmer.

Aber seine Tochter, die wird dieser Roth doch gern haben? Nichts da! Selten eine so hasserfüllte Suada gegen parasitäre eigene Brut gelesen. Ja, ist diesem Mann denn gar nichts recht, gar nichts lieb und wert?

Er schlingert so durch seine Tage, die doch im Sinne eines Abstands von sich selbst auch erholsam hätten sein sollen. Einzige Lichtblicke sind ein rührend bemühtes Rentnerpaar, mit dem er schon mal einträchtig zu Tische sitzt – und eine Imbiss-Bedienung, die er sich als schärfste aller Bräute zurechtphantasiert. Doch sind diese geisterhaften Erscheinungen nicht überhaupt bloße Einbildung?

Kurzum: Heinz Strunks neuer Roman spielt – vielfach mit Wiederholungen des Immergleichen gespickt – in der Vorhölle. Wer hätte vom vermeintlich harmlosen Niendorf gedacht, dass es dort so diabolisch zugehen kann? Eine Folie, die Strunk unterlegt, ist eine Tagung der legendären „Gruppe 47″, die im Mai 1952 wirklich und wahrhaftig in Niendorf stattgefunden hat. Von einem Genius Loci indes keine Spur. Denn es muss unter den Skribenten schon damals streckenweise hochnotpeinlich zugegangen sein. Noch so ein gefundenes Fressen für Strunk und seine Hauptfigur.

Während ihn der Alkoholismus Bredas und die Begleiterscheinungen körperlich-seelischen Verfalls zunehmend anekeln, gleitet Roth ganz allmählich selbst ins notorische Trinken hinein. Im Rausch widerfährt ihm dann auch etwas letztlich Unerklärliches, das starr, steil und quer zum sonstigen Fast-nicht-Geschehen steht: Er begeht auf geradezu viehische Weise Fahrerflucht und weiß nicht, was aus dem Opfer geworden ist. Ist der zudringliche Mann mit leichten Blessuren davongekommen? Ist er gar tot? Wahnwitzig genug, dass sich nach all dem überhaupt noch die Frage stellt: Kann der Aufenthalt in Niendorf einfach so weitergehen? Zwar ist es kein Krimi, doch soll hier nicht mehr verraten werden. Zwischen all dem Irrsinn kann es doch wohl keinen Platz für „Normalität“ geben, oder?

Heinz Strunk ist ein Schriftsteller, dem vielleicht mancher einiges nachmachen zu können glaubt. Er bewegt sich ja auf mittlerer Flughöhe und macht nicht viel Aufhebens von seinem eher groben, schmucklosen, auf eigene Art bestsellertauglichen Stil, der hie und da vor brachialen Sprüchen überquillt. Insofern ist schwer nachvollziehbar, dass man ihn öfter ausgerechnet mit Thomas Mann vergleicht. Stimmt, er zitiert den berühmten Lübecker (Nähe Niendorf, hehe) ja gelegentlich selbst. Doch was heißt das schon? „Zauberberg“? „Tod in Venedig“? Es lässt sich notfalls alles herbeizerren.

Aber Vorsicht! Strunk trägt weitaus mehr im Gepäck, als man zunächst meinen könnte. Kaum merklich, dass und wie er aufs Ganze zielt, allem schnoddrigen Gehabe zum Trotz.

Heinz Strunk: „Ein Sommer in Niendorf“. Rowohlt Verlag, 240 Seiten, 22 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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