Mit den vielen Lebensjahren wird der menschliche Handlungsradius spürbar kleiner und enger, es zählen nun zusehends Dinge und Zustände im Nahbereich. Was man sich darunter vorstellen kann, beschreibt der 1932 in Köln geborene Büchnerpreisträger Jürgen Becker in seinem Lyrik-Band „Nachspielzeit“, der – dem Untertitel zufolge – „Sätze und Gedichte“ enthält.
Eine „Nachspielzeit“ gibt es nicht nur in diversen Sportarten, sondern auch im Leben. Es ist jene Zeit, in der nach und nach die meisten Freunde und Weggefährten sterben und das Gefühl sich einstellt, man sei aus seiner Kohorte nahezu allein übrig geblieben. Es ist das Dasein im Wartestand, in „zugezählten Stunden“, wie es einmal bei Lessing hieß. Die Tage bestehen größtenteils aus Wiederholungen und Gewohnheiten. Keine Zeit für hochfliegende Hoffnungen oder große Entwürfe, sondern für leise, sanft verhallende Töne. Gleichwohl gibt es noch immer ein „Netz der Zusammenhänge“, in dem man sich auch verheddern kann.
Beckers Gedichte kreisen vor allem um Schwund und Verschwinden, vielfach auch um Leere und Alleinsein, wenn nicht Einsamkeit. Sehr innig und still verweilen Gedanken und Empfindungen bei Jürgen Beckers verstorbener Frau Rango Bohne. Wie ließe sich eine solch umfassende Abwesenheit auch verwinden?
In den Blickpunkt rückt nunmehr der kleinteilige Alltag, rücken die Gegenstände im Haus – buchstäblich von der Waschmaschine bis zur Eieruhr. Politische Ereignisse dringen, wenn überhaupt, eher als restliche Sinnfetzen, als allzu bekannte Partikel in diese eng gewordene Welt; ein Zustand, der vom lyrischen Ich offenbar gelegentlich als befreiend empfunden wird. Es gibt eben auch wohltuende Leere, sofern man die Medien beiseite lässt. Allerdings:
„Ich kann nur sagen, daß ich versuche,
mit der Leere zurande zu kommen, die jeden Morgen
aufs neue beginnt.“
Einmal zitiert Becker wörtlich das (zuweilen besonders ergiebige) Naherlebnis aus Gottfried Benns Gedicht „Was ist der Mensch“ herbei:
„Du mußt aus deiner Gegend alles holen,
Denn auch von Reisen kommst du leer zurück.“
Immer wieder geraten jedoch, zumal in den Träumen, Phänomene aus früheren Lebensphasen an die Tages-Oberfläche – besonders die als Kind in Thüringen durchlittenen Bombennächte des Zweiten Weltkriegs. Mehrfach werden Bezeichnungen von „damals“ aufgerufen, die bei jüngeren Menschen überwiegend in Vergessenheit geraten sind; Schockmomente auch hier inbegriffen. Beispiel:
„Das Fräulein vom Amt. Die Küchenmamsell.
Die Zugehfrau. Das Kinderfräulein. Die Handarbeitslehrerin.
Die Gouvernante. Die KZ-Aufseherin. Das Milchmädchen…“
Vergessen wäre vielleicht heilsam, doch es wird auf Erden nicht gewährt. Zitat:
„– glaub ja nicht, es sei vergessen,
was du einmal gesagt hast,
es kommt alles wieder (…)
irgendwo glimmt alles weiter
und das Gedächtnis kennt keine Gnade.“
Das höhere Alter bringt bekanntlich auch den Unwillen mit sich, ständig auf Veränderung zu sinnen. Hier gerinnt diese Haltung zur Absage an Rilkes berühmte Zeile „Du mußt dein Leben ändern“. Becker hingegen postuliert:
„Du mußt dein Leben nicht ändern. Geändert hat sich schon alles allein.“
Jürgen Becker hat im Lauf der Jahrzehnte einen ganz eigenen Kosmos aus Lyrik und Journalen erschaffen. Seinem künstlerischen Können darf man sich lesend getrost anvertrauen. Diese späten Gedichte sind assoziativ, flüchtig, sie versammeln Momente und Fragmente, alles gerundet Ganze stünde wohl unter Lügenverdacht. Und doch spürt man in all diesen Zeilen mehr oder weniger deutlich, was – aus höchst subjektiver Sicht – eigentlich vorgeht.
Einzelne Worte wie „Gehöft“ oder „Häher“ scheinen überdies feinsinnig hinzudeuten auf die karge Nachkriegslyrik von Günter Eich, mithin auf eine Inventur von Restbeständen. Auch auf solch unscheinbare Weise können sich Traditionsstränge bilden.
Jürgen Becker: „Nachspielzeit“. Sätze und Gedichte. Suhrkamp. 106 Seiten. 24 Euro.