Hinüber ins Ungewisse – Mariette Navarros Roman „Am Grund des Himmels“

Zu (beinahe) 100 Prozent und viele Jahre lang hat die Erzählerin „funktioniert“, in der gläsernen Karrierewelt der globalen Hochhäuser, hier wahrscheinlich in einem ziemlich degenerierten Viertel von Paris. Nun aber will sie ein für allemal ausbrechen aus diesem sterilen Irrsinn mit seinen Mechanismen des kläglichen Dazugehörens.

Durch eine Dachluke begibt sich Claire eins Abends – „nach Dienstschluss“ – in gefährlich schwankende Höhen über der Stadt, wo starke Winde wehen und der Abgrund erschreckend nah ist. Desertieren aus all dem Gewöhnlichen, gut und schön. Aber was geschieht danach, wie kann man sich droben und außerhalb halten? Und überhaupt.

Ihre bescheiden und sparsam gebliebenen Eltern haben gefragt: Denkt ihr da oben auch an Leute wie uns? Bisher gewiss nicht. Claire hat sich als einfaches Mädchen vom Land bis in die Höhen der Metropole hochgearbeitet, hat Körper und Seele verleugnet. Doch wozu? Damit soll nun Schluss sein.

Ist es nicht eine etwas banale Frontstellung, die Mariette Navarro da aufruft? Freiheits-Vorstellungen mit Phantasien vom Fliegen und Tanzen. Klischees vom Aussteigen. Zuletzt hat diese Autorin (in „Über die See“) literarisch die aufwühlenden Untiefen des Meeres erkundet, jetzt ist sie – nicht minder bedrohlich – „Am Grund des Himmels“ angelangt. Aber wächst dort nicht auch Hoffnung?

Die Nacht vergeht. Anderntags sind die Etagen des Hochhauses seltsam leer. Ist eine Katastrophe passiert, hat es eine Feuersbrunst gegeben, ist Claire vom Dach gestürzt, ist sie selbst hinunter gesprungen? Alles ist Spekulation, bloße Mutmaßung.

Ihr plötzlich so entschiedenes Handeln steht vollends quer zur aller vermeintlichen Ordnung, allem angeblichen Fortschritt. Dazu dauernd diese Menetekel an den Wänden und ins Glas geritzte Zeichen!

Einem Mann namens Marc, der in der namenlosen Organisation nicht mehr mitmachen mochte, hatte man ein ganzes Stockwerk überlassen, wo er verzweifelt ins Nichts arbeitete. Es war nicht zum Aushalten.

Schließlich bewegen sich Claire und etliche andere (es werden immer mehr) in Taucheranzügen zum reißenden Fluß. Wo soll das enden? Ein Losschwimmen ins Ungewisse, ins gänzlich andere Sein, woanders hin. Wird es jemals ein Ankommen geben?

Mariette Navarro: „Am Grund des Himmels“. Roman. Kunstmann Verlag, 160 Seiten, 22 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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