Der ganze Wahnwitz in einem Buch – „Narratorium“ von Ulrich Holbein

Jetzt wollen wir’s aber wissen: Welches Buch hat in dieser Saison die größte thematische Spannweite? Welcher Band versammelt in hochkonzentrierter Form den meisten Wahnsinn?

Nun, da mag es einige Kandidaten geben, doch die reichhaltigste Fundgrube in beiderlei Hinsicht dürfte das „Narratorium” sein. Im Titel klingt Doppelsinn an: Es geht um schier unerschöpfliche Vorräte an Erzählstoff (also „narrative” Qualitäten), zugleich aber um Narretei und Besessenheit jeder denkbaren Sorte. Da steht nun der finstere Terrorfürst Osama bin Laden neben einem Fuzzi wie Dieter Bohlen, der erzpessimistische Denker E. M. Cioran neben der erotischen Tanzikone Josephine Baker, Jesus neben Hitler, Klaus Kinski neben Kafka, Joseph Beuys, Bhagwan, Rudolf Steiner, Janis Joplin oder Prinz Charles. Und so weiter. Gütiger Himmel, hilf!

255 Kapitel zum Kopfschütteln

Der enzyklopädisch belesene, allzeit scharfzüngige Autor Ulrich Holbein hat recherchiert wie ein Berserker. Er ist in Auswahl und Darstellung nicht zimperlich; er jagt echte Genies (z. B. den Romancier Jean Paul), Visionäre und halbwegs harmlose Apostel, doch auch Diktatoren und Mörder durchs Panoptikum.

Holbein hat ein radikal subjektives, verstörendes, höchst unterhaltsames Lexikon der „Verrückten” aus zweieinhalbtausend Jahren Menschheitsgeschichte zusammengetragen. Die meisten Gestalten haben tatsächlich gelebt, einige der Porträtierten sind fiktiv, haben aber das kollektive Bewusstsein geprägt. Man lernt hier bizarre Leute kennen, von denen man noch nie gehört hat. Und über die, von denen man schon etwas wusste, erfährt man oft noch Bestürzendes.

In rasanten, stark zugespitzten und süffig formulierten Porträts filtert Holbein die Essenz von 255 größtenteils irrwitzigen Lebensläufen, garniert mit typischen Zitaten und Selbsteinschätzungen der Beschriebenen. Da kommt man aus dem Kopfschütteln oft gar nicht mehr heraus. Religiös, aber auch weltlich Verzückte und Verirrte aller historisch verbrieften Zeiten betreten da die Bühne; ferner Schamanen und Sonderlinge, Weltverbesserer, Gurus, Exzentriker, Extremisten, Unholde, Verbrecher und überhaupt auffällige Gestalten jeder Schattierung.

Methoden zur „kunstgerechten Kreuzigung“

Wir greifen willkürlich ein Beispiel heraus: den irrlichternden Freigeist namens „Mynona” (alias Salomo Friedlaender), der von 1871 bis 1946 sein schrilles Wesen getrieben hat. Dieser Mann, den man mit Fug randständig nennen könnte und der doch auch etwas Genialisches hatte, dachte sich mit Akribie Methoden zur „kunstgerechten Kreuzigung” von Heilanden aus, schrieb Abhandlungen über die „Funktion der Milz auf der 3. transzendentalen Ebene” sowie „über Stimmbandverkümmerung in der Vagina von Hermaphroditen”. Seltsam genug.

Zudem focht „Mynona” leidenschaftlich für die Nichtverbesserung von Druckfehlern und verlangte im Laden stets „Toilettenpapier mit Trauerrand”. Genug, genug. Es ist nur ein Bruchteil seiner gehäuften Absonderlichkeiten. Jetzt rechnen Sie das mal auf 255 Lebensläufe hoch! Dass „Mynonas” Biographie in der NS-Zeit eine tief tragische Wendung nahm, verleiht der Darstellung – weit über kuriose Aspekte hinaus – historische Tiefenschärfe. Genau diese Einordnung in größere Zusammenhänge ist die Stärke des Buches. Ulrich Holbein ist ein Durchblicker sondergleichen – und klingt manchmal selbst ganz schön hochmütig. Geschenkt.

Glückliche Erschöpfung nach der Lektüre

Und der Nutzen? Wenn man das Buch gelesen hat, darf man glücklich erschöpft feststellen: Man hat gedanklich den ganzen Kreis dessen durchschritten, was Menschen anrichten können. Auch lernt man, mit welchen Ideen und Taten sich Menschen im Lauf der Zeiten verführen ließen. So erkennt man womöglich die Muster wieder und wappnet sich gegen böse Wiederholungen.

Diese ungeheure alphabetische Ansammlung erträgt man allerdings nur dosiert. Schon einzelne Lebensbilder strapazieren Toleranzbereitschaft und Vorstellungsvermögen, nötigen aber auch immer wieder ungläubiges Staunen ab über ungeahnte Grenzgänge des Lebens.

Wer man auch sei: Am Ende dieser aufregenden Lektüre kommt man sich selbst in aller Bescheidenheit wohl „fürchterlich normal” vor. Wenn das kein Zugewinn an höherer Weisheit ist!

Ulrich Holbein: „Narratorium”. 255 Lebensbilder. Ammann Verlag. 1008 S., 39,90 Euro.

(Der Autor Ulrich Holbein, Jahrgang 1953, lebt abseits vom großen Getriebe im hessischen Knüllwald. Bisherige Bücher von ihm hießen z. B. „Die vollbesetzte Bildungslücke”, „Ozeanische Sekunde”, „Das Schwein der Erkenntnis”, „Typologie der Berauschten”, „Weltverschönerung”).

Weitere Infos u. Debatte im Internet: http://www.narratorium.net

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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