„Tatort“: Auf dem Seziertisch

Abgesehen von den eigentlichen Kriminalfällen, sind die „Tatort“-Folgen der ARD wenigstens in einem Punkt drastischer geworden: Immer deutlicher hat man uns in den letzten Jahren übel zugerichtete Leichen en detail gezeigt, wie man es vordem nicht gewagt hätte.

Ältere Folgen der Reihe fallen nicht nur durch betuliche (oder behutsame) Dialoge und langsame (oder sorgsame) Schnitte auf, sondern auch durch eine gewisse Diskretion. Wenn es gar zu brutal wurde, hat „die Kamera“ meist gnädig weggeschaut. Die Zuschauer haben trotzdem gewusst, worum es ging.

Anders heute. Bekanntlich beginnt ein „Tatort“ meist gleich mit dem (ersten) Mord. Sehr zeitig und zügig kommen somit die professionellen Leichenfledderer vom Pathologischen Institut ins Spiel. Hie und da sind sogar tragende Rollen daraus geworden. Man denke vor allem an Jan Josef Liefers als Gerichtsmediziner Boerne im Münsteraner „Tatort“ (siehe Info am Schluss), aber auch an Joe Bausch beim Kölner Pendant. Etwas Unheimliches, vermischt mit Groteske, umwölkt diese Sezierenden. Auch daran sollen wir uns weiden.

Da wird denn gern und ausführlich an nackten, allenfalls notdürftig mit Tuch verhüllten Toten (mit bestens sichtbaren Wundmalen und Gewaltspuren) herumgedoktert. Lakonische, neckische oder zynische Dialoge über jederlei Quetschungen und Risse sind inbegriffen. Ein arg strapaziertes Erzählmuster führt etwa junge Polizeikräfte (oder Angehörige des Opfers) auf die Szenerie, die sich an „so etwas“ noch nicht gewöhnt haben und sich daher übergeben oder wenigstens mit vor Entsetzen geweiteten Augen vor uns Wissenden stehen. Offenbar haben diese Frischlinge noch nie einen halbwegs hart gekochten TV-Krimi angeschaut.

Ohne näheres Ansehen einzelner Schauplätze und Personen ist die generelle Richtung beim „Tatort“ klar. Im Gefolge etlicher Kinodramen, skandinavischer oder US-amerikanischer Serien glaubt man, unsere ach so flüchtige Aufmerksamkeit mit „starken“, heftigen Bildern einfangen zu müssen. Gewiss gibt es auch nachdenkliche, melancholische „Tatort“-Varianten, doch auch sie bedienen manchmal die gängige Schaulust. Kaum einer durchbricht diesen vermeintlichen Zwang.

Apropos nackte Mordopfer auf dem Seziertisch. Gibt es wohl eine „Tatort“-Statistik, die anführt, ob und wie die Zahl ansehnlicher weiblicher Opfer zugenommen hat? Und wie sieht’s mit den Steigerungsraten bei Drehbuch-Sätzen über Spermaspuren in toten Körpern aus? Sachdienliche Hinweise nimmt jede Dienststelle entgegen.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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