Thomas Mann kann man auch tanzen – Xin Peng Wangs „Zauberberg“ in Dortmund

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Dmitry Semionov tanzt Hans Castorp (Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund)

Als Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang vor der Spielzeit verkündete, er werde Thomas Manns Roman „Zauberberg“ als Vorlage für eine Produktion verwenden, waren die Reaktionen verhalten. Ausgerechnet Thomas Mann!

Gewiß kommt in Thomas Manns Romanen manches vor, was sich gut bearbeitet wohl auch tanzen ließe; doch angesichts seiner nüchtern norddeutschen, in endlos langen Sätzen Mal um Mal um letzte Genauigkeit in der Beschreibung der Sachverhalte ringenden Sprache wollte die Skepsis einstweilen nicht recht weichen. Wenn Wang wenigstens was Lustiges ausgesucht hätte, „Felix Krull“ zum Beispiel! Aber Lungenklinik, lauernder Tod von früh bis spät, oh je. Auch die sinnfällige Nähe zum mörderischen Ersten Weltkrieg und dem nunmehr 100. Jahrestag seines Beginns konnte Zweifel uns nicht rauben. Das gelang erst der Premiere dieser grandiosen Arbeit. Xin Peng Wangs „Zauberberg“ ist zu einem ganz großen Theaterereignis geworden, wie sie nach wie vor nicht nur in Dortmund selten sind.

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Jelena Ana Stupar (Nelly) und Dann Wilkinson (Joachim Ziemßen)
(Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund)

Will man das Stück in gebotener Nüchternheit beschreiben, muß man das wohl aus mehreren Perspektiven versuchen. Zunächst ist diese Produktion (Konzept und Szenario: Christian Baier) in der Tat – Ballett, ist es Botschaft, die sich im Tanz ausdrückt. Wir erleben (in den Erstbesetzungen) Dmitry Semionov als Titelheld Hans Castorp, Monica Fotescu-Uta als umworbene Madame Clawdia Chauchat, Andrei Morariu als ihren Geliebten Mynher Pieter Peppercorn, Dann Wilkinson als Castorps Cousin Joachim Ziemßen und etliche weitere großartige Künstler. Ihre Tanzfiguren, Gestik und Ausdruck sind dem am ehesten wohl „klassisch“ zu nennenden Spektrum entlehnt, das sich von Formen des Ausdruckstanzes oder des Tanztheaters deutlich unterscheidet.

Zum Zweiten sehen wir ein recht konkretes Rollen-Spiel, nicht also, was ein tanzendes Theater ja auch versuchen könnte, die Auflösung einzelner Handlungsstränge des Romans ausschließlich in getanzte Stimmungen und Gefühle. Würden Tänzerinnen und Tänzer nicht tanzen, sondern sprechen, wären wir nahe am Naturalismus. Und das ist auch gewollt, im Erklärteil des Programmhefts werden die Szenen des ersten und des zweiten Teils dieses Abends sehr konkret auf Elemente der literarischen Vorlage bezogen.

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Giuseppe Ragona (Ludovico Settembrini) vor Röntgenbildern (Foto: Bettina Stöß/Stage Picture/Theater Dortmund)

Zum Dritten jedoch ist dies natürlich sehr wohl ein Tanztheater, nämlich in dem Sinn, daß die performative Kunst des Tanzes mit Bühnenbild (Frank Fellmann), Lichtdesign (Carlo Cerri) und Videodesign (Knut Geng) in eine wunderbare, in manchen Momenten schier atemberaubende Symbiose tritt, die mit hoher Suggestion wundervolle Bilder für Kopf und Herz produziert.

Das weiße Tuch zum Beispiel, das im ersten Teil über die Menschen fällt, das verhüllende Schneelandschaft und Anonymität und kollektives Leichentuch sein kann, fällt gegen Ende der Vorstellung erneut – kunstvoll gesteuert – herab, ist nun jedoch, an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg, das Leichentuch einer ganzen Epoche. Grandios sind die Stühle, die angeordnet entlang der Schräge einer Bergformation vom Schnürboden herabschweben und wohl den Platz symbolisieren, den einer wie Castorp im Leben sucht, hinreißend die Maskierten des Maskenballs mit ihren künstlichen Riesenköpfen, die gleichzeitig auch typische Vertreter einer bürgerlichen Gesellschaft sind, die es in der Lungenklinik nicht gibt.

Und zu alledem: Tod und Tanz und Totentanz. An keinem anderen Ort der Welt prallen Lebensgier und gnadenlose Vergänglichkeit so unvermittelt aufeinander wie in der Klinik auf dem Zauberberg, wo sie auch nicht zaubern können. Die Tragik der Vorlage transportiert dieses Ballett von Xin Peng Wang mit geradezu furchteinflößender Intensität.

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Monica Fotescu-Uta (Madame Chauchat), Dmitry Semionov (Hans Castorp) (Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund)

Wenn man was Kritisches sagen will, dann vielleicht, daß die Produktion ein ganz klein bißchen zäh in Gang kommt, daß beispielsweise die getanzte Tuberkulose vor unerfreulich schwärzlichen, riesengroßen Röntgenbildern gern etwas früher ihr Ende finden könnte. Doch natürlich gehören das rasselnde Ein- und Ausatmen aus dem Off, gehören die Hustenanfälle der reizenden jungen Patientin mit zum Stoff und haben ihren Anteil am Gesamtkunstwerk.

Bleibt, die Musik zu preisen. Sie stammt von dem relativ unbekannten, früh verstorbenen Balten Lepo Sumera (1950 bis 2000), dessen Arbeiten, wenngleich sie nicht mit der traditionellen Harmonik brechen, ein gewisser Minimalismus eigen ist. Kennzeichnend für viele Stücke sind verhaltene Anläufe mit wenigen Tönen, die sich wiederholen und steigern, und ihre Auswahl für diese Produktion muß man einen Glücksfall nennen, tragen sie zur Homogenität des Abend doch ganz erheblich bei.

Den Stab führte in untadeliger Manier Motonori Kobayashi, die Solisten Shinkyung Kim (Solo-Violine) und Tatjana Prushinskaya (Klavier) spielten im Graben ganz vortrefflich zusammen mit den Dortmunder Philharmonikern.

Wen haben wir noch nicht genannt? Unter den Solisten Jelena Ana Stupar (Patientin Nelly),Giuseppe Ragona (Freigeist Ludovico Settembrini) und Arsen Azatyan (Jesuit Naphta), außerdem Ballett und Statisterie und sämtlich Zwei- (Dritt- und Viert-) Besetzungen in den Hauptrollen. Es würde dies jedoch den Rahmen dieser Besprechung sprengen.

Das Publikum applaudierte stehend und begeistert.

Die nächsten Termine: 6., 12., 28. Dezember 2014, 4.1., 7.1., 1.2., 6.2., 12.3., 20.3.2015.

Karten Tel. 0231 / 50 27222. www.theaterdo.de

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