Vorsicht, trügerische Idylle! – Donna Leons „Stille Wasser“

Auch erfolgreiche Ermittler können irgendwann nicht mehr, sie sind dann müde und ausgelaugt. Immer nur Verbrechen, Diebstahl und Mord. Überall nackte Gier und purer Hass…

Jetzt, im Hochsommer, hängt auch noch die bleierne Hitzeglocke über Venedig, dazu die permanent durch die engen Gassen flutenden Touristenmassen, die die fragile Lagunenstadt in eine laute und dreckige Event-Bude verwandeln: alles kaum auszuhalten.

Und auch wenn der Schwächeanfall, den der Commissario während eines Verhörs mit einem ekelhaften Kerl hat, nur vorgetäuscht ist, um einen aufgebrachten Kollegen vor Handgreiflichkeiten gegenüber dem sich keiner Schuld bewussten reichen Fiesling zu bewahren: Brunetti braucht wirklich Ruhe und Erholung, Abstand vom Alltag.

Wie wäre es mit einer Auszeit auf einer der vielen kleinen Inseln in der Lagune? Viel schlafen und lesen, schwimmen und rudern, die Seele baumeln lassen und die schlaffen Muskeln ertüchtigen. Doch Vorsicht, Idylle! Denn stille Wasser sind bekanntlich tief, und auch alte Männer wie Casati, mit dem sich Brunetti während seiner Reha anfreundet, und der sich scheinbar nur noch um seine Ruderboote und Bienenstöcke kümmert, können ein dunkles Geheimnis haben. Eines Tages jedenfalls sind Casati und sein Boot plötzlich verschwunden. Brunetti befürchtet das Schlimmste und meldet sich zum Dienst zurück.

Auch wenn wir uns Donna Leon als glückliche Schriftstellerin vorstellen müssen, die mit leichter Hand jedes Jahr einen Brunetti-Bestseller aufs Papier wirft, mit den üppigen Honoraren ihrer musikalischen Händel-Leidenschaft frönen und großzügig einige Barock-Orchester alimentieren kann: Genervt ist auch sie von dem touristischen Wahnsinn, der sich da täglich in Venedig abspielt und ihre langjährige geliebte Wahlheimat in ein überkandideltes, unbewohnbares Disneyland verwandelt hat.

Seit kurzem lebt Donna Leon deshalb auf einem alten Bauernhof in der Schweiz und blickt von dort mit mildem Spott und verwundetem Herzen auf die wunderschöne, doch nun langsam aber sicher zerfallende Stadt. Auch Brunetti, dieser wie aus der Zeit gefallene Schöngeist und melancholische Intellektuelle, der seine Familie liebt und die klassische Literatur verehrt, kann das Ende nicht aufhalten. Aber er kann sein Bestes geben, um die kriminellsten Auswüchse zu verhindern und die widerlichsten Schurkereien ans Tageslicht zu bringen.

„Stille Wasser“ ist denn auch weniger ein Kriminalroman als vielmehr eine klug komponierte Reflexion über die Vergänglichkeit und das Alter, die verlorenen Illusionen und die Notwendigkeit, sich – trotz allem – nicht abzufinden mit den unmoralischen Gelüsten des Kapitalismus und zerstörerischen Tendenzen des Zeitgeistes.

Das alles braucht seine Zeit. Es dauert 150 Seiten, bis Brunetti einen Toten aus dem Wasser zieht, seine Alarmglocken zu schrillen beginnen und sein Jagdinstinkt geweckt wird: Denn was wie ein tragischer Boots-Unfall aussehen soll, könnte auch ein hinterhältiger Mord sein. Um Klarheit zu gewinnen, muss Brunetti tief in die Vergangenheit der Beteiligten abtauchen und sich näher mit dem ebenso stillen wie trüben Wasser in der Lagune beschäftigen. Dass es um kriminelle Müllentsorgung und gemeingefährliche Umweltsünden geht, ahnt der Leser bald. Doch die Lösung des Falles ist eigentlich gar nicht so aufregend. Viel spannender ist es, in den Abgrund der Lebenslügen alter Männer zu schauen.

Donna Leon: „Stille Wasser. Commissario Brunettis sechsundzwanzigster Fall“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2017, 343 S., 24 Euro. Als Hörbuch ebenfalls im Diogenes Verlag erschienen, gelesen von Joachim Schönfeld, 8 CD, 25 Euro.

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