Mit Haut und Haaren erlebte Weltgeschichte – Geert Maks famoses Buch „Das Jahrhundert meines Vaters“

Von Bernd Berke

„Gerüche. Teer und Taue, das müssen die ersten Dinge gewesen sein, die mein Vater gerochen hat.“ Mit dieser sinnlichen Impression beginnt der niederländische Autor Geert Mak ein ganz großes Unterfangen: In „Das Jahrhundert meines Vaters“ hat er nicht nur dessen Biographie und die seiner yerzweigten Familie, sondern ein tiefgreifendes Porträt des eigenen Landes verfasst – von 1899 bis in die Jetztzeit.

Das anfängliche Zitat bezieht sich auf die Segelmacher-Werkstatt des Großvaters. Das Leben ist hart genug, doch immerhin kann man die Dinge, die einen angehen, noch anfassen, riechen oder schmecken. Der allmähliche Verlust solcher Unmittelbarkeit ist eines der zahlreichen Themen dieses Buches, das in den Niederlanden ein ungeheurer Verkaufserfolg war. Dort wurden über 500.000 Exemplare abgesetzt. Hochgerechnet auf die deutsche Einwohnerzahl, entspräche dies etwa einer Auflage von 2,5 Mio. Stück. Auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe legt uns kein Geringerer als Cees Nooteboom („Rituale“) Maks Werk wärmstens ans Herz. Der Mann hat recht.

Quer durch die Jahrzehnte entfaltet Geert Mak ein historisches Panorama, das sich immer wieder im Kleinen, Fassbaren, Familiären bricht und spiegelt. Es gibt wenige Bücher, in denen dies so plausibel gelingt und in denen so viel (kritische, doch mitfühlende) Gerechtigkeit allen Generationen gegenüber waltet.

Gerechtigkeit für alle Generationen

Es ist also mit Haut und Haaren erlebte Historie. Viele alte Briefwechsel und Tagebücher wurden da gesichtet, etliche Verwandte noch rechtzeitig befragt. Doch Mak blättert auch in vergilbten Zeitungen und Annalen, zitiert erhellende Statistik oder kluge Essays.

Anfangs streifen wir durchs ländliche Schiedam, erfahren manches über die traditionell gefügte Lebenswelt jener Zeit. Der Vater des Ich-Erzählers (Letzterer ist identisch mit Geert Mak) wird später Pfarrer, woraus sich Exkurse über protestantische Richtungen ergeben.

Doch auch die soziale Frage rückt ins Blickfeld: Es gab Zeiten, da lebensgefähröich schuftende Arbeiter (etwa in den Häfen) entweder überhaupt keinen oder nur zwei Tage Urlaub im Jahr hatten.

Handlungsstränge verzweigen sich auf Indonesien und die Niederlande

In den späten 1920er Jahren übernimmt der Vater eine Pfarrstelle in der damaligen holländischen Kolonie Indonesien, wo die Familie zwisehen Faszination und lange zementierten Vorurteilen schwankt – wiederum ein Spiegelbild der seinerzeit gängigen Politik. Die Mutter furchtet, dass ihre Kinder „verindischen“, also müssen die älteren Geschwister zurück in die Niederlande, um dort zur Schule zu gehen.

Diese Trennung der Familie ermöglicht es Mak, zwei historische Stränge der 1930er Jahre abwechselnd zu verfolgen. In Europa wütet der NS-Staat, und der Überfall auf die Niederlande wird mit allen, tief in den Alltag reichenden Konsequenzen geschildert.

Kolonialzeit und faschistisches Regime

Mak blendet nicht aus, dass einige seiner I.andsleute den neuen faschistischen Machthabern zu Diensten waren. Vor allem aber formiert sich, auch in kirchlichen Kreisen, alsbald auch ein untergründig wirksamer Widerstand. Südostasien gerät zur gleichen Zeit unters Joch japanischer Truppen. Die dort gebliebenen Holländer werden in die Zwangsarbeit gedrängt oder kommen mitsamt den Kindern in Gefangenenlager.

Ein klein wenig schwächer wird das Buch gelegentlich in den Nachkriegsteilen (Stichworte z. B.: Flutkatastrophe 1953, Provo-Bewegung um 1967/68). Manche Passagen klingen nun nach (sehr achtbaren) Leitartikeln. Dennoch lernt man vieles hinzu über unser Nachbarland und seine Sicht auf uns Deutsche.

Am Ende hat man jedenfalls wahrhaftig das ebenso lastende wie erhebende Gefühl, mit der (längst ins Herz geschlossenen) Familie Mak ein ganzes Jahrhundert durchschritten zu haben. Wir wünschen uns mehr Geschichtsbücher dieser Art!

Geert Mak: „Das Jahrhundert meines Vaters“. Siedler Verlag. 571 Seiten, 28 Euro.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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