Im Aufzug zur Ewigkeit: Kay Voges beschwört in Dortmund „Das goldene Zeitalter“

Und ewig trommelt der Duracell-Hase: Szene aus „Das goldene Zeitalter“ von Kay Voges und Alexander Kerlin (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Eine monotone Automatenstimme zählt bis Neunundneunzig. Gleichförmig, unerbittlich. Elektronische Instrumente simulieren das Schrittgeräusch der Schauspieler. Einundzwanzig. Tack tack. Zweiundzwanzig. Tack tack.

Alle tragen den gleichen Minirock, die gleichen Riemchenschuhe, die gleiche wasserstoffblonde Lockenperücke. Wie ferngesteuerte Barbiepuppen treten sie einzeln aus einem Aufzug, schreiten roboterhaft zwei Treppen hinab. Unten angekommen, streifen sie die Schuhe mechanisch an einer Fußmatte ab, bevor sie wieder in den Aufzug steigen, diesmal auf dem Weg nach oben.

So geht das hoch und runter, auf und ab, wieder und wieder, wie im Traum oder wie in Trance. So setzen Dortmunds Schauspielintendant Kay Voges und sein Dramaturg Alexander Kerlin das Rad der Zeit in Gang, ziehen uns hinein in den Kreislauf der ewigen Wiederkehr. „Das goldene Zeitalter – 100 Wege, dem Schicksal die Show zu stehlen“ heißt ihr Stück, das die Routinen des Alltags in immer neuen Schleifen zelebriert, persifliert und schließlich transzendiert. Aus öden Obligationen des Lebens wie der täglichen Körperpflege und dem Einkauf im Supermarkt haben sie eine genial-verrückte Revue entwickelt, die das Endlos-Entertainment des 21. Jahrhunderts kommentiert. Sechs Schauspieler strampeln sich ab im Strom der Fließbandunterhaltung, suchen nach Wahrheit, nach Glück, nach Erlösung.

Für etwa acht Stunden halb improvisiertes Theater reichen die Szenen, Figuren, Videos und Musikstücke insgesamt. Zu sehen bekommt das Publikum stets nur einen Teil davon: welchen, das wissen weder die Mitwirkenden noch Kay Voges und Alexander Kerlin vorher genau. Beide sitzen mitten im Publikum und greifen per Funk und Mikrophon nach Lust und Laune in das Geschehen ein. „Bitte jetzt Heinrich Heine“, sagt Voges zum Beispiel in Richtung Bühne, und schon rezitiert ein Schauspieler einen Text, in dem der Dichter das „Goldene Zeitalter“ beschwört, einen gottähnlichen Zustand des Menschengeschlechts.

Der deutsche Michel (Uwe Schmieder), hier einmal nicht verschnarcht, sondern angsterstarrt im Kreis der ewigen Wiederkehr (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Der deutsche Michel (Uwe Schmieder), hier einmal nicht verschnarcht, sondern angsterstarrt im Kreis der ewigen Wiederkehr (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Abrupt wird Heines schöne Vision vom Tagesschau-Gong unterbrochen. Wir stolpern in die nächste Schlaufe: Die Voges-Familie versammelt sich für die 20-Uhr-Nachrichten am Esstisch. Schlagworte flimmern vorüber, Lampedusa, Merkel, Uli Hoeneß. Die Moderatoren wechseln, Eva Herman, Steffen Seibert, Tom Buhrow, egal. Alles neu und doch bis zum Überdruss bekannt. Langeweilesoße. Manche Parodie ist zum Schreien komisch. Manchmal passiert auf der Bühne quälend wenig. Dann wieder bricht ein geregeltes Chaos aus, in dem uns aus allen Ecken große Ratlosigkeit anblickt. Was jetzt? Wohin? Und vor allem: warum?

Das ist eine Zumutung, und nicht jeder ist bereit, sie auszuhalten. Zuschauer verlassen den Saal, um sich etwas zu trinken zu holen. Das ist in dieser Aufführung ausdrücklich erwünscht. Aber nicht alle kehren zurück. Sollten sie überdrüssig geworden sein, dann sind sie an diesem Abend nicht alleine. Wütend empört sich ein Schauspieler über die Monotonie, über die ewige Wiederkehr des längst Bekannten. Er rebelliert, versucht auszubrechen, ist aber trotzdem weiter Teil des Spiels. Und Peng, schon läuft wieder der Werbespot für Zott-Sahnejoghurt, „hinein ins Weekend-Feeling“.

Die Videokunst von Daniel Hengst bleibt dem Verrinnen der Zeit auf den Fersen. Jeder Augenblick, gerade noch live erlebt, gerinnt in seinen Bildern zur Vergangenheit. Die Sekunde wird zur Erinnerung, die von uns fort gleitet. Bilder splitten sich auf, optische und akustische Echos entstehen. Zeitschleifen überlappen sich, bilden Schichten. Dahinter beginnt etwas aufzuleuchten, was sich zunächst nur erahnen lässt. Ein ferner Schimmer, der Gewissheit wird, sobald die Worte großer Schriftsteller und Philosophen ins Spiel kommen.

Das sind die Protagonisten: ferngesteuert, videoüberwacht, auf der Suche nach dem Glück (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das sind die Protagonisten: ferngesteuert, videoüberwacht, auf der Suche nach dem Glück (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein paar Zeilen von Tschechow, ein Bruchstück von Beckett genügen, um uns endlich sehen zu lassen. Wie aus dem Nichts flammt das Licht der Erkenntnis auf, hinterlässt eine schillernde Spur, und alles wird plötzlich transparent. Wir sehen ihn zappeln und pulsen, den heißen Herzschlag des Lebens, das so toll und trostlos ist, voller Schönheit und Stumpfsinn, extrem im Wunderbaren wie im Vulgären. Irgendwann, wir verdrängen das gerne, gibt es für alles ein letztes Mal. Ein letzter Spaziergang, ein letzter Morgen, ein letzter Blick aus dem Fenster. Das Leben aber wird weiter schreiten, gleichförmig, gleichgültig. Vorhang. Fortsetzung folgt.

Wir gehen nach Hause, mit hundert Bildern im Kopf und manchem Zweifel im Herzen. Wir legen uns schlafen, und am nächsten Morgen stehen wir auf. Gehen unter die Dusche, putzen die Zähne und ziehen uns an, zuerst das Hemd, dann die Hose. Einundzwanzig. Tack tack. Zweiundzwanzig. Tack tack.

(Informationen und Termine: http://www.theaterdo.de/detail/event/4017)

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