Buchesse als Rummelplatz der Auflagen-Giganten – die Auftritte des Literaturnobelpreisträgers Grass und des Kritiker-Papstes Reich-Ranicki

Aus Frankfurt berichtet Bernd Berke

Auftritt der Auflagen-Giganten gestern auf der Frankfurter Buchmesse: Zuerst begab sich Literaturnobelpreisträger Günter Grass vor die Presse, dann wurde sein kritischer Widersacher Marcel Reich-Ranicki am Verlagsstand umlagert wie ein Popstar.

Grass‘ noble Geste: Damit über seiner eigenen Auszeichnung der „Alternative Nobelpreis“ nicht etwa vergessen werde, stand er gemeinsam mit dessen Träger, dem SPD-Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer, Rede und Antwort. Scheer setzt sich seit Jahren unermüdlich für die Sonnenenergie ein. Beide befanden, Grass habe die nahende ökologische Katastrophe seinem Roman „Die Rättin“ visionär geahnt.

So inständig man auch über Sonnenenergie als Abhilfe reden wollte, die Frage nach dem roten Tuch der SPD, Oskar Lafontaine, ließ sich einfach nicht vermeiden. Der hatte – wie berichtet – am Mittwoch auf der Buchmesse wissen lassen, seine Freundschaft mit Grass sei „belastbar“. Doch Grass blieb bei seiner „Kündigung“: Lafontaine habe sich der Partei gegenüber „jämmerlich und erbärmlich“ verhalten.

Lafontaine soll endlich „die Klappe halten“

Da Lafontaine von allen Ämtern zurückgetreten sei, in denen er etwas hätte bewegen können, müsse er nunmehr wirklich „die Klappe halten“. Grass ist freilich Realist: „Ob es ihm gelingt, wage ich zu bezweifeln“. Lafontaine sei gewiss begabt, er habe immer mal wieder sehr richtige Dinge gesagt, es fehle ihm aber seit jeher an Geduld. „Dann folgt er wieder anderen Einfällen, und sein neuestes Thema ist nur noch er selbst…“ Außerdem sei Sonnenenergie wichtiger als all dies.

Grass beklagte den Hang zur Mystifizierung und zum nahezu priesterhaften „Sehertum“, der sich in der Literatur wieder breitmache – bis hin zur vom Philosophen Peter Sloterdijk angestoßenen Debatte um die Gentechnik. Hier werde eine Abkehr vom Erbe der Aufklärung sichtbar. Ein Schriftsteller müsse „in der Zeit stehen“. Es kennzeichne den wahren Autor, dass er schreiben müsse, dass er nicht umhin könne, persönlichen Verlust-Erfahrungen zu Welt-Erfahrungen gerinnen zu lassen.

Gute Schriftsteller erkennt man an den Zumutungen

Am Abend zuvor hatte Grass beim Empfang am dtv-Verlagsstand ein Ärgernis benannt: Jungen deutschen Autoren werde von der Kritik immer öfter empfohlen, sie sollten das Publikum mehr unterhalten. Das reiche beileibe nicht aus, so Grass: „Einen guten Schriftsteller erkennt man vor allem an den Zumutungen“. Und auf die einigermaßen müßige Frage, wer nach seiner Meinung im Jahre 2000 den Literaturnobelpreis bekommen werde: „Ach, das weiß ich auch nicht. Die Chinesen wären mal an der Reihe. Die haben sehr gute Autoren.“

Böse Zungen nennen es „Lunger-Journalismus“. Was damit gemeint ist? Nun, beispielsweise stundenlang vor dem Kanzleramt stehen, um einen Kernsatz von Schröder zu erhaschen. Fast so erging’s einem, als man gestern zu Marcel Reich-Ranicki vordringen wollte. Chaotisch war der Stand von DVA umlagert, wo er die Memoiren „Mein Leben“ herausgebracht hat.

Ein Mikrofon fand sich nicht, nur jeweils acht bis zehn Leute konnten ihm lauschen. Ohne wüstes Drängeln ging’s nicht ab. Manchen reichte im Geschiebe schon die vage Impression („Ich habe seine Glatze gesehen, ich geh‘ wieder“). Postwendend reagierte Reich-Ranicki auf Grass‘ Äußerung, Zumutungen seien in der Literatur wichtiger als Unterhaltung. „Im Grunde richtig, aber in Deutschland falsch, ganz falsch!“ rief er aus. Hierzulande muteten die meisten Autoren den Lesern unentwegt etwas zu, verstünden es aber nicht zu unterhalten.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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