Unterwegs in das Zeitalter der Trance – Botho Strauß‘ neuer Prosaband „Das Partikular“

Von Bernd Berke

Hand aufs Herz: Wer weiß schon, was gemeint ist, wenn jemand „apotropäisch“ blickt, oder was unter dem „feirefizartigen Gehabe“ eines Menschen zu verstehen ist? So kennt man Botho Strauß. Ganz ohne Lexikon geht die Lektüre eben nicht vonstatten.

Doch die manchmal so überaus erlesene Wortwahl täuscht über eines hinweg: Kaum je seit seinen legendären Liebesverwirrungs-Beobachtungen „Paare Passanten“ (1981) ist Strauß kopfüber und kopfunter so tief in den Beziehungs-Alltag eingetaucht wie in „Das Partikular“. Der Titel bezieht sich auf das (alles Zufällige und historisch Bedingte aussondernde) „Auge Gottes“, das den Menschen sieht, wie er wirklich ist…

Die Alltagsnähe ist nur ein Quell, niemals das Ziel. Strauß benennt Dämonen und Phantome der Gegenwart, um sie zu bannen, um sich desto entschiedener von all dem abzustoßen, und zwar in Richtung jener von allem Tages-Geschwätz gereinigten Mythen und Trance-Zustände, denen dieser ungemein belesene Autor seit langem zustrebt.

Standbilder der Hingabe und Untreue

Ein flammendes Bekenner-Zitat entschlüpft Strauß auf Seite 74: „E i n m a l muß es so sein, daß das Zeitalter der Trance n i c h t zurückliegt.. . einmal m u ß es das j e t z i g e sein, das uns wirklich umgibt!“ Ja, das zur neuen Frömmigkeit bereite literarische Ich wähnt sich gar schon „im Vorhof der Seligen Zeit“.

Wir bleiben einstweilen nüchtern und stellen fest: Die vielen Prosastücke (und ein längeres Gedieht) dieses Bandes sind zu Kapiteln gebündelt, jedoch in zahllose Mikro-Episoden zersplittert, als wären von der Welt nur noch lauter winzige Spiegelscherben übrig, die es einzusammeln gilt. So klirren und glitzern denn auch die Worte.

Strauß kann den Dramatiker nicht verleugnen: Manche Passagen wirken wie theatergerechte Stellproben, welche die Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen Männern und Frauen in kurz aufleuchtenden Szenenbildern festhalten – und wieder ins nebelhafte Nichts entlassen, aus dem sie offenbar gekommen sind. Andere Situationen verdichten sich gleichsam zu Skulpturen des Begehrens und des Hasses, devoter Hingabe und ruchloser Untreue, Erwartung und Enttäuschung.

Atemberaubend genaues Erzählen

Nur ein paar Tropfen aus dem wogenden Meer des zuweilen atemberaubend genauen Erzählens: Die Rede ist von einem Manne, der in Gesellschaft charmant und wendig ist, daheim, aber urplötzlich ein Rohling; von der Frau, die jedes Geschehen erst im Nachhinein verarbeitet, so dass sie unter einem anschwellenden „Erlebnis-Stau“ leidet; von allerlei Paaren mit „Zwitter-Gebrechen“ („einander Ungeschickte“), die nur noch spurlos beisammen sind. Doch wir werden auch Zeugen eines grotesk misslingenden Möbelkaufs – fast wie bei Loriot.

Seltsame Erscheinungen: ein abgründiger Kinderhasser, der den Erzähler in eine kafkaeske Hinrichtungs-Orgie hineinzieht; ein Mann, der die (berechtigte) Eifersucht seiner Frau mit windigen Ausreden zu zerstreuen sucht und dem geradezu übersinnliche Entlastung zuteil wird.

Die Magie kommt aus dem Internet

Allenthalben diese befremdlich gewordene Wirklichkeit, rätselhafte Momentaufnahmen, Vexier- und Wimmelbilder des Lebens, deren Grundelemente man zu kennen glaubt, die aber oft einen Dreh ins Mystische bekommen. Erzählt wird nuancenreich und mit ungeheurer ästhetischer Trennschärfe, wenn auch zuweilen mit Mahner- und Seher-Stimme, fern von jeder ironischen Tonlage. Ironie gilt Strauß ja als ein Grundübel dieser Zeit. Ernst und aufs Höchste gefasst sei der Mensch! Doch der Autor ist milder geworden, er hält nicht mehr so barsche Predigten.

Strauß‘ Suggestion verfehlt ihre Wirkung kaum: Wie, wenn nicht durch Trance, soll man sich all diesen flackernden Phänomenen entziehen? Als Vorbote der hypnotischen Zeit erscheint dem Autor das Internet. Irgendwann, so die Strauß’sche Science-Fiction, werde man jederlei Gestalt aus dem Netz in Echtzeit „herunterladen“ können; sie käme dann auf einen zu wie in einem traumhaften Zauberreich, „wie gerufen“. Fragt sich nur: Wollen wir sie reinlassen?

Botho Strauß: „Das Partikular“. Hanser-Verlag. 220 Seiten. 34 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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