Botho Strauß‘ Notate „Vom Aufenthalt“

„Wo warst du in deinen Tagen? Hast du eine Höhle oder eine Säule bewohnt? Im Letztlicht oder Lechzlicht gestanden?“

Fürwahr ein hoher Ton, nah am Rande des Strapaziösen. Keine leichte Kostprobe aus dem neuen Buch von Botho Strauß, das aber ungleich vielstimmiger instrumentiert ist und auch das Alltägliche nicht beiseite lässt.

„Vom Aufenthalt“ heißt der Band. Er enthält Hunderte von Notaten, die (oft unwirsch, vielfach elegisch) von der als heillos diagnostizierten Gegenwart wegführen sollen und gerade deshalb treffsicher ins Zentrum heutiger Zeitwirrnis zielen. Strauß sucht ein Menschenbild für ungewisse Zukunft zu entwerfen, aus dem Vorhandenen zu erspüren. Diese Anstrengung kommt zwar gelegentlich hochmögend, doch kaum einmal tönend prophetisch daher, wie manche gewiss wieder argwöhnen werden. Sondern? Zuweilen leicht wie ein Lufthauch.

Die Grundhaltung, die der Autor einnimmt und anempfiehlt, ist ein hellsichtig bewusstes Zögern und Zaudern. Die heilsame Weile, das Warten nach all dem übermäßigen Geschehen, also: Aufenthalt – wie auf einer Heimreise mit dem Zug. Endlich eine andere Zeitfülle!

Die Zeit wird nicht als Fluss empfunden, sondern als Abfolge von Sprüngen, zwischen denen Ruhezonen bleiben. In diesen Zwischenräumen regt sich die vibrierende Sehnsucht nach dem Moment, da alles ruhig hingespannte Erwartung ist, als wenn man auf eine noch leere Lichtung hinausblickt. Die inständig erhoffte Aussicht auf kreisförmige Wiederkehr früherer Zustände (hier „Einstweh“ genannt, als sei’s ein Heimweh). Ein konservatives, gar reaktionäres Ansinnen, das Denker wie Nietzsche und Heidegger heranzieht oder edle Raritäten-Winkel der Geistesgeschichte aufsucht?

Solches Verharren läuft aufs Bewahren und Wiederherstellen hinaus, was heute nach Straußschem Verständnis freilich kühne Erkundung und Expedition erfordert, will man das allzu Gewohnte und Immergleiche des Aufklärungs-Zeitalters hinter sich lassen. Daher die zumindest indirekt zu erschließenden Losungen: Schluss mit Geschwindigkeit und sinnloser Innovation. Schluss mit der landläufig scharfzüngigen, rundweg überinformierten Schlauheit und den daraus folgenden, rasch hingeworfenen Meinungen des Tages, hinfort mit feiger Toleranz, aber auch mit ironischen Ausflüchten. Schluss mit dem nur elend sportiven Sex des „Lustgelichters“. Statt dessen sei Zeit und Raum für Mythen, überlieferte Rituale und Geheimnisse.

Kein Zweifel: Mit alle dem versehen, würden wir wahrlich anders leben.

Auch kommen hier so unzeitgemäße Begriffe wie Scheu, Scham und Bescheidenheit auf, die gegen alle verworfene Frechheit wieder ins Recht und in Kraft gesetzt werden sollen. Überdies wird das barocke Bewusstsein der Vergänglichkeit (vanitas) wachgerufen.

Strauß preist zwar das Alleinsein auf den Klippen des Lebens und Lesens, ist aber nicht nur ein höchst empfindsamer Bewohner des Elfenbeinturms. Er wendet sich den Untiefen des Hartz-IV-Milieus zu oder sinnt übers Populäre in der Kultur nach, das er gelegentlich glückhaft in den USA, doch nimmer bei uns ins Werk gesetzt sieht. Zitat: „Das Populäre erleidet hierzulande oft das schreckliche Schicksal, von Intellektuellen gehütet und befingert zu werden. Auf diesem Weg kann es niemals zu Herzen gehen.“

Oberflächlich gelesen, wirkt Strauß einmal soldatisch stramm, wenn er „Dienst und Ehre“ den „mutlosen Befangenheiten des ,zivilen Ungehorsams’“ vorzieht (Seite 161). Wäre es nach dem lauen Zeitgeist gegangen, hätte er seinen Sohn „zur kritischen Memme erziehen müssen.“ Nichts da!

Doch wenn „Dienst und Ehre“ nun mehrschichtige Bedeutung hätten und sinngemäß nicht nur kriegerisch besetzt wären? Wenn man sie als kulturelle Errungenschaften gegen das Verwahrloste und Beliebige dächte?

Selbst der biblische Jesus, so heißt es einmal, sei schon zu geschwätzig ins Tägliche verwoben gewesen. Geradezu alttestamentarisch, sieht Strauß – in der Tradition von Sören Kierkegaard und Karl Barth – einen strengen, gar nicht gütigen und alles andere als „süßlichen“ Gott. Für Straußsche Verhältnisse fast schon ein leichthändig ausgestreutes Bonmot: „Eine protestantische Predigt, das ist in den meisten Fällen, als spräche ein Materialprüfer vom TÜV über den Heiligen Gral.“

Statt dessen soll ein einziges Aufmerken sein, wenn das Unantastbare, Unbegreifliche und Undeutbare Schatten wirft, wenn das umfassende, in diesem Buch mehrfach beschworene „totum simul, das große Allzugleich der Werke und Tage“ im – so wörtlich – „Vollmaß der Zeit“ erstrahlt. Zittrige Zukunftsvision zwischen Bangen und Hoffen: Dies große Gleichzeitige löst die lineare Historie und irgendwann auch die lineare Schrift auf. Und dann?

Man muss die An- und Absichten nicht rundum teilen, um sagen zu können: Hier gibt es Passagen, aus denen man jedes kostbare Wort trinken könnte. So gut dies heute noch geht, erfüllt Strauß seine Forderung nach „Sprachwachsamkeit“, die er etwa bei den großen Vorläufern Jean Paul und Heimito von Doderer gefunden hat. Künftige Generationen, so fürchtet er, werden in erster Linie das dünnflüssige, ungreifbare Virtuelle kennen. Etliche Stellen des Buches betreffen den Moloch Internet, vorwiegend als Menetekel. Den einst so schöpferischen Sozialtypus des Einzelgängers entlässt das Netz – Strauß zufolge – nur noch als Psychopathen „und schickt ihn, verblendet, umschlossen von Fiktion, mit Pumpgun in den Gewaltexzess.“ Wenn das kein gepflegter Kulturpessimismus ist!

Bemerkenswert, dass Strauß mehrfach seine Mutter erwähnt, mithin das Aufgehobensein im Vergangenen, in früher Nachkriegszeit. Schärfer denn je empfindet er, „dass er, wo immer er sitzt und in Zukunft noch sitzen wird, stets übrigblieb aus anderen Tagen.“

Weisheit des Alters wird schließlich gegen eine allseits erschöpfte Jugendkultur ins Feld geführt. Die wahren Abenteuer könnten dabei erst beginnen, findet Strauß. Er zitiert aus T. S. Eliots Gedicht „East Coker“ die Zeile: „Old men ought to be explorers.“ Und er übersetzt frei: „Alte Männer müssen Kundschafter sein.“

Strauß wird am 2. Dezember (also heute!) 65 Jahre alt. Demnach wär’s Zeit für weitere neue, womöglich zukunftsweisende Entdeckungen in althergebrachten Beständen.

Botho Strauß: „Vom Aufenthalt“. Carl Hanser Verlag. 295 Seiten. 19,90 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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