Die Geburt der Phantome – „Surreale Welten“ im Wuppertaler Museum

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit großen Namen wartet die neue Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum auf. Nur ein paar Beispiele: Goya, James Ensor, Max Ernst, Magritte, Picasso. Sie alle haben „Surreale Welten“ (Titel der Schau) ins Bild gesetzt. Aber was heißt in diesem Falle „surreal“?

Der Begriff wird hier etwas weiter gefasst. Nicht nur der eigentliche Surrealismus (mit Dalí, de Chirico und Ernst gleichwohl prominent vertreten) gerät ins Blickfeld, sondern auch etliche Vor- und Ausläufer dieser Richtung. Phantome aus Traumgefilden haben schließlich nicht erst in unserem Jahrhundert die Bilder bevölkert.

Die von Hamburg her kommende Auswahl stammt aus der beachtlichen Sammlung eînes ungenannten Hanseaten, der als Banker gutes Geld verdient und es mit viel Sinn und Verstand für Kunst ausgegeben hat. Betrüblich nur, dass er seine Schätze wahrscheinlich einem Berliner Institut vermachen will. Dort haben sie doch schon so viel…

Viele Quellen des Übernatürlichen

Surreale Gestalten, so sieht man nun in Wuppertal, können aus vielem hervorquellen, sie scheinen just zum Ur-Bestand menschlicher Wahrnehmung zu gehören: Und so sprießen sie denn aus architektonischen Erfindungen, aus Tier- und Naturszenen, aber auch aus Maschinenwelten, sozialen Verwerfungen – und aus dem menschlichem Körper mitsamt seiner Geschlechtlichkeit. Davon zeugt vor allem ein verschwiegenes Kabinett mit fleischlichen Phantasien des Hans Bellmer. Wie in einer Schöpfer-Bastelstube werden da die Leiber zerteilt und neu montiert.

Giovanni Battista Piranesi hat zur Mitte des 18. Jahrhunderts visionäre Bilderserien von Kerkern und Verliesen („Carceri“) entworfen. Die Verwirr-Architektur setzt in bedrückend dunklen Labyrinthen geheimnisvolle Figuren frei, die als surreal gelten können –Gefängnisse als Brutstätten fiebriger Kopfgeburten.

Von Francisco de Goya sind einige „Caprichos“ zu sehen: Ein Arzt verwandelt sich unversehens zum Esel; selbst ein Baum nimmt, heftig vom Winde gebeugt, gespenstisch übersinnliches Leben an. Wenn derart die Dinge ins Gleiten geraten, so rücken die Albträume mit ihren Phantasmagorien schon ganz nah. Die um 1865 gefertigten Paris-Ansichten von Charles Meryon wirken zunächst harmlos wie Postkarten. Doch dann sieht man, wie mitten in der Stadt eine Seeschlacht tobt oder fliegende Fische durch die Lüfte segeln.

Als ob ein Loch im Himmel wäre

Auf einmal ist es, als sei ein Loch in den Himmel gestoßen worden, aus dem die „andere“ Wirklichkeit herabstürzt. Doch das Surreale hat viele Facetten, nicht nur bedrohliche: Welten liegen zwischen den düsteren Todesahnungen eines James Ensor, den fast lieblich schwebenden Gestalten des Symbolisten Odilon Redon, den schier unendlichen Metamorphosen bei Max Ernst und Picasso, dem feinsinnigen Humor bei Paul Klee, den subtilen Sinnestäuschungen und Gedankenspielen bei René Magritte und den Formen-Explosionen bei Wols.

So reichhaltig ist diese Schau mit über 250 Werken, dass man eine Entdeckung beinahe versäumt: Der als Schriftsteller berühmte Victor Hugo („Les Misérables“) hat außerordentliche Tuschzeichnungen geschaffen. Am Rande der Abstraktion oszillierend und somit ihrer Zeit ganz weit voraus, sind es zarte „Erscheinungen“ wie aus einer höheren Welt.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). Bis 3. September. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 45 DM.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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