Der Familie entgeht man nicht – Zeruya Shalevs Roman „Für den Rest des Lebens“

Auch wenn man selbst schon Kinder hat und in der Mitte des Lebens steht: Solange die eigenen Eltern leben, bleibt man ein Kind. Ein Kind, das von der Erziehung und den Erwartungen und Enttäuschungen der Eltern geprägt ist, ein Kind, das den Tod der Eltern verkraften muss, während man selbst Kinder erzieht und sie vor dem Tod beschützen will.

Vor allem davon, dass Eltern uns „Für den Rest des Lebens“ prägen und die Familienbande stärker sind als alle Versuche, diese emotionalen Abhängigkeiten aufzulösen, handelt der neue Roman von Zeruya Shalev. Es ist ein meisterlicher und oft versponnener, von Rückblenden und Erinnerungen durchwirkter Roman, ein feinfühliges, psychologisch aufgeladenes Erzählkonstrukt, das niemanden kalt lassen kann. Und ein Buch, mit dem die israelische Autorin ein eigenes Trauma bearbeitet.

Zeruya Shalev, international berühmt geworden mit Romanen wie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“, wurde 2004 bei einem Terroranschlag in Jerusalem schwer verletzt. Noch heute leidet sie seelisch und körperlich unter den Folgen. Doch weil sie sich nicht in ihren Schmerz verkriechen, sondern der sinnlosen Gewalt ein Zeichen des Lebens entgegensetzen wollte, entschied sie sich, einen kleinen russischen Jungen zu adoptieren.

Dina, eine der Hauptfiguren des Romans „Für den Rest des Lebens“, ist beileibe nicht identisch und kein schlichtes Abziehbild von Zeruya Shalev, aber auch Dina will ihrem ins Stocken geratenen Leben einen Ruck geben und dem politischen Stillstand in Israel etwas entgegenhalten: Auch wenn ihre Ehe fast daran zerbricht und ihre schon erwachsene Tochter ihre Mutter nicht verstehen kann, wird Dina nach Russland reisen, um einen kleinen Jungen zu adoptieren. Als sie dem Jungen das erste Mal begegnet und in seine traurigen Augen schaut, weiß sie, dass sie den Tod besiegen und vielleicht auch die verschüttete Liebe ihres Mannes zurückgewinnen kann. Da schließt sich der Kreis des Lebens: Denn im selben Moment klingelt ihr Mobiltelefon und Dina erfährt, dass Chemda, ihre seit langem schwer kranke Mutter, soeben gestorben ist.

Die mit dem Tod ringende Chemda ist das erzählerische Zentrum des Romans. Während ihr Bewusstsein sich trübt, lässt sie noch einmal ihr Leben Revue passieren, denkt an ihre Kindheit im Kibbuz, an ihre Ehe und ihre zwei Kinder. An ihren Sohn Avner, den sie viel zu sehr verhätschelte und den die überbordende Liebe der Mutter fast unfähig machte, eigene Beziehungen zu Frauen einzugehen. Chemda denkt auch an Dina, die vernachlässigte Tochter, die nur ein bisschen Liebe und Verständnis bei ihrem lebensfremden und melancholischen Vater finden konnte. Der Roman ist randvoll mit ödipalen Konstellationen und Konflikten der Kindheit, die das weitere Leben bestimmen. Da wundert es auch kaum, dass Dina mit ihrer eigenen erwachsenen Tochter hadert und sich nach einem kleinen Jungen sehnt.

Wer das alles als Variation altbekannter psychologischer Gemeinplätze und Klischees abhaken möchte, wird dem äußert vielschichtig und elegant erzählten Roman nicht gerecht. Immer wieder werden neue Türen aufgestoßen, kämpfen die sich in Erinnerungen verkriechenden Familienmitglieder gegen Wut und Enttäuschung, sehnen sie sich nach ein bisschen Glück und Zufriedenheit. Shalevs breit angelegter, über viele Jahre reichender Erzählhorizont weitet sich zu einer filigranen Topografie seelischer und politischer Landschaften. Wahrlich keine leichte, aber eine lohnende Lektüre.

Zeruya Shalev: „Für den Rest des Lebens“. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, 521 Seiten, 22,90 Euro.

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