Berlin 1973. Die geteilte Stadt ist Hotspot des Kalten Krieges. Nirgendwo sonst auf der Welt vermischen sich ideologische und politische Gegensätze zu solch einer undurchdringlichen Melange aus Verschwörung und Intrige, Spionage und Illusion.
Im Westteil der von hohen Mauern geteilten Stadt lebt ein ehemaliger Kriminalkommissar in einem Seniorenheim. Er ist jetzt 74 Jahre alt, ein einsamer, verbitterter Mann. Am liebsten möchte er die Vergangenheit einfach vergessen, nie wieder daran erinnert werden, dass er einst bei der Berliner Polizei mit Mord und Totschlag zu tun hatte, sich gegen die Nachstellungen der Nazis wehren musste und irgendwann seinen eigenen Tod inszenierte, einfach abtauchte und sich in Amerika ein neues Leben erfand. Von seiner Frau wurde er für tot erklärt, damit sie wieder heiraten, sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen und sich um das Kind ihres den Nazis hinterher laufenden Ziehsohnes kümmern konnte, das er mit einer von den völkischen Massenmördern umgebrachten Jüdin gezeugt hatte.
Wer gedacht hatte, dass der von Geheimnissen umwitterte Kriminalkommissar Gereon Rath und seine ehemalige Frau Charlotte, die den Polizeidienst quittiert und sich als Detektivin durchgeschlagen hatte, in den Wirren der Zeit verloren gegangen oder längst verstorben seien, kann mit diesem Buch eine Überraschung erleben. Der zehnte und eigentlich finale Band von Volker Kutschers Romanserie über Gereon Rath, die von Tom Tykwer unter dem Titel „Babylon Berlin“ verfilmt wurde, erschien 2024 und endete mit den Ereignissen rund um die Novemberpogrome 1938. Einige der in ein Lügengespinst verwickelten Personen waren verstorben, andere in ein ungewisses Schicksal entlassen.
Einige Rätsel gelöst, neue Fragen aufgeworfen
Doch nun lichtet sich das Dunkel, werden einige Rätsel gelöst, allerdings auch ein paar neue Fragen aufgeworfen: „Westend“ nennt Volker Kutscher sein mit dokumentarisch verspielten Illustrationen von Kat Menschik versehenen Band, der uns ein Wiedersehen mit dem 1973 wieder in Deutschland und in einem Berliner Seniorenheim lebenden Rath schenkt. Hier bekommt er Besuch vom Privatdozenten Hans Singer, einem Historiker, der über die Arbeit der Polizei im Wechsel der politischen Systeme forscht und herausbekommen will, wie es einigen Nazi-Mitläufern gelingen konnte, nahtlos im kapitalistischen Westen und im sozialistischen Osten ihre Karriere fortzusetzen.
Ihr auf Tonband aufgezeichnetes Gespräch, bei dem sich Rath und Singer belauern und belügen, wird aber nie veröffentlicht. Erst 2025 findet es eine Uni-Hilfskraft im Nachlass des Historikers, transkribiert und publiziert es. Ein toller Trick von Kutscher, der mit seinen Figuren eine Schnitzeljagd durch das Labyrinth der Vergangenheit unternimmt und dabei auch verrät, was aus Charly geworden ist, der großen Liebe des sich in tiefer Trauer eingemauerten Gereon Rath. Was spricht eigentlich gegen eine weitere Fortschreibung der fantastischen Story?
Volker Kutscher: „Westend“. Illustriert von Kat Menschik. Galiani Verlag, Berlin 2025, 112 Seiten, 23 Euro.


