Dortmunder Jugendoper: Ein Zoo am Lager Buchenwald

Der Zoo, in Emine Güners Bühne ein trostloser Ort für den Pavian (Cosima Büsing), das Murmeltier (Wendy Krikken) und den Bären (Franz Schilling). (Foto: Björn Hickmann)

In einem Zoo lebt ein Nashorn. In einer Winternacht stirbt es plötzlich. Was war geschehen?

Vertrug das exotische Tier die Kälte nicht? Hatte es Heimweh? Das fragen sich ein Murmeltier und der kürzlich erst neu angekommene Bär. Oder hat das Nashorn „sein Horn zu tief in Angelegenheiten gesteckt, die es nichts angehen“, wie der Vater einer Pavian-Familie mutmaßt?

Den Zoo, den Komponist Edzard Locher und sein Librettist Daniel C. Schindler als Schauplatz für ihre Oper für junges Publikum ab Zwölf gewählt haben, den gab es wirklich. Er lag direkt am Zaun des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar. Der Lagerkommandant ließ ihn von den Häftlingen errichten; die Lagerbewacher und ihre Familien sollten sich dort entspannen. Alte Fotos zeigen, dass vom Tierpark aus Zaun und Lager sichtbar waren. Auch die Weimarer machten Ausflüge in den Zoo. Gewusst und gesehen haben sie natürlich nichts – ebenso wenig wie die Frau des Lagerkommandanten, die fröhlich Fotos schoss, auf denen die Baracken im Hintergrund zu erkennen sind.

Die Oper mit dem etwas umständlichen Titel „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ nennt weder den Namen Buchenwald noch den Begriff „Konzentrationslager“. In Anlehnung an ein erfolgreiches Schauspiel von Jens Raschke erzählt sie in knapp 90 Minuten eine Fabel. Der Blick auf den Ort des Grauens fällt aus der Perspektive der Tiere im Zoo. Bär, Murmeltier und Pavian erkennen „Gestiefelte“, denen es offensichtlich gut geht, und „Gestreifte“, denen übel mitgespielt wird. Sie gehen damit unterschiedlich um: Das Murmeltier schläft und vergisst, der Pavian will nichts wissen. Nur der Bär, der gibt sich nicht zufrieden: Er will herausfinden, was es mit dem Schornstein auf sich hat, aus dem so übelriechender, beißender Qualm dringt. Und er ist damit dem Schicksal des Nashorns, das er nie kennengelernt hat, auf der Spur. Sehr zum Missvergnügen des Pavians, der seine Angst vor den möglichen Folgen der Bärenaktionen laut herausschreit.

Mehr als Feigheit oder Zivilcourage

Locher und Schindler entwickeln aus der Fabel kein Zeitstück zur Geschichte der Grausamkeit im Nationalsozialismus. Sie schildern vielmehr in einer Parabel mögliche Reaktionen auf das Unsagbare: Wegschauen, Verdrängen, Verharmlosen, aber auch Courage, Wissensdurst, Entschlossenheit. Und sie entdecken im Verhalten der Zootiere die Angst, die in ihre Existenz hineinkriecht und den vermeintlich so geordneten und harmlosen Alltag vergiftet. Es sind Verhaltensweisen, wie sie Menschen an den Tag legen, die mit Unrecht, Unterdrückung, brutaler Gewalt konfrontiert werden. Schauen sie hin, fühlen sie mit, handeln sie? Oder machen sie die Augen zu, nehmen nichts wahr, ergeben sich ihrer Angst und ihren Ohnmachtsgefühlen? Da geht es um weit mehr als um Feigheit oder Zivilcourage.

Der Oper gelingt es, ohne expliziten Geschichts- oder Politikbezug, aber auch ohne belehrenden Zeigefinger zu fragen, wie wir uns verhalten – in einer Situation, in der sich die Spaltung der Gesellschaft und der Einfluss menschenverachtender Ideologien immer deutlicher abzeichnet. Für die Schülerinnen und Schüler, die bei der Uraufführung im „Operntreff“ des Dortmunder Opernhauses dabei waren, könnte das Thema bis in ihren Schulalltag reichen: Wo entdecken sie Ausgrenzung, wo versteckte oder offene Gewalt, wo Mobbing? Und wie reagieren sie?

Angst und Ignoranz

Die sensible Inszenierung von Stephan Rumphorst lässt die drei Tier-Darsteller mit ihrem nur halb verstehenden Blick auf das Lager der „Gestiefelten“ und der „Gestreiften“ die ganze Ratlosigkeit, Angst und Verdrängung ausdrücken, bis hin zu einer schmerzhaften, von einem Trommel-Exzess überdröhnten Panik-Attacke des Affen. Cosima Büsing, von Emine Güner mit rosa Wimpern und Gesäßtaschen behutsam als Pavian gekennzeichnet, spielt sich die Seele aus dem Leib, charakterisiert von schmeichelnder Kantilene bis zum schrillen Schrei die Seelenlagen ihrer Tierfigur.

Die „Bärenburg“ gab es tatsächlich im Weimarer Zoo. Emine Güner hat sie auf ihrer Bühne stilisiert nachgebaut. (Foto: Björn Heckmann)

Wendy Krikken reckt und streckt sich nach dem Winterschlaf in wohliger Ignoranz, auch wenn dem Murmeltier klar ist, dass „das Nashorn etwas gesehen hat“. Immerhin: Es nimmt sich vor, den gestorbenen Kumpel nie zu vergessen. Am Ende wird in einer Szene, die für Jens Raschke der Ausgangspunkt seines Stücks war, in einem poetischen Bild die Wahrheit über den Tod des Nashorns offenbart – in einer Schilderung, deren träumerische Magie über den Fabel-Realismus der Geschichte hinausreicht. Da ist der Bär (Franz Schilling, deutlich artikulierend und mit der Stimme gestaltend) schon mit jungenhaftem Elan aus seiner „Bärenburg“ ausgebrochen und Opfer seines Wissen-Wollens geworden.

Dass beschränkte Mittel starke Ergebnisse möglich machen, ist an der Musik von Edzard Locher abzulesen: Die atmosphärisch bedrückende, trostlos graue Bühne Emine Güners ist flankiert von zwei Schlagzeugbatterien, zwischen denen Sven Pollkötter hin und her eilt, um vom Vibraphon bis zum Gong Klangerzeuger jeglicher Machart zu bespielen. Charmant beginnt die Musik – unsichtbar von Olivia Lee-Gundermann dirigiert – mit melodischen Motiven, die jeweils einem Tier zugeordnet sind, sich aber im Verlauf des Stücks nicht als Leit- oder Charaktermotive vordrängen.

Musik verdichtet die Emotion

Der Autor der Schauspiel-Vorlage für die Oper, Jens Raschke, und (rechts) Komponist Edzard Locher. (Foto: Werner Häußner)

Lochers Musik schafft Stimmungen und stützt die Stimmen, die er meist wortfreundlich, in emotional hitzigen Situationen aber auch in extreme Höhen und Lautstärken führt. „Was das Nashorn sah …“ ist seine erste Arbeit für das Musiktheater, das der Komponist aus der Praxis gut kennt: Er ist seit 2016 Erster Schlagzeuger des Orchesters des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden und so mit dem Repertoire der Oper wohl vertraut. Im Nachgespräch nach der Uraufführung waren es junge Zuschauer, denen in der Musik die verdichtete, über das bloße Wort hinausführende Emotion auffiel.

Mit dieser Premiere einen Tag nach dem Gedenken an die Reichspogromnacht leistet die Junge Oper Dortmund einen eindrücklichen Beitrag zum Erinnern. Die Kunst spricht, wo die Zeitzeugen verstummen. Und das an einem Ort in Dortmund, der mit den Schrecken der braunen Jahre eng verbunden ist: Das Opernhaus steht an der Stelle der 1938 von den Nazis abgerissenen Synagoge.

Weitere Vorstellungen: 18., 21. November; 3. Dezember; 21. Januar; 5. Februar; 15. Mai; 17. Juni. Beginn jeweils 11 Uhr. Weitere Termine in Planung. Info: https://www.theaterdo.de/produktionen/detail/was-das-nashorn-sah-als-es-auf-die-andere-seite-des-zauns-schaute/

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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