Einen Turm bis in die Wolken bauen – Wladimir Tatlin: Der Künstler und die russische Revolution

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Einen Turm bis in die Wolken bauen oder auf einem geflügelten Fahrrad durch die Lüfte segeln – solche übermenschlichen Träume weckte die Sowjet-Revolution bei dem Künstler Wladimir Tatlin (1885-1953). Die Düsseldorfer Kunsthalle zeigt als „Weltpremiere“ (Direktor Jürgen Harten) eine umfangreiche Werkschau des Russen.

Große Überraschung: Tatlin, der doch weithin als Bannerträger der Revolution galt, hat – bis auf eine recht begrenzte Phase – vorwiegend konventionell gearbeitet. In seiner Frühzeit versenkte er sich in Blumen-Stilleben, vertrat dann heftig Positionen der Moderne, wandte sich aber schon nach einigen Jahren wieder Porträts und Landschaften zu. Es war offenbar eine erzwungene Anpassung an die Zeitläufte: Kühne Traum-Konstruktionen waren im erstarrten Sowjet-Reich nicht mehr genehm. Sie hätten die Menschen daran erinnern können, daß das Leben viel Besseres zu bieten hat als aschgrauen kommunistischen Alltag oder gar finsteren Stalinismus.

Im Vor- und Umfeld der Revolution ergießt sich Tatlins Kunst geradezu in die erhoffte Zukunft hinein. Selbst eine Aktdarstellung („Weibliches Modell“, 1913) wird in jener Phase zum Fanal: Der Frauenleib schraubt sich dynamisch und selbstgewiß in den Raum – körperliche Vorform jenes Turms zu Ehren der „III. Internationale“, der Tatlin berühmt gemacht hat.

Optimismus oder Anmaßung?

Das schneckenförmige, himmelstürmende Gebilde, in Düsseldorf als Rekonstruktion zu sehen, sollte zum Ruhme des Sozialismus 400 Meter in die Höhe ragen, ist aber nie gebaut worden. Es wäre vielleicht eine Art zweiter Turm zu Babel geworden, Zeichen eines grandiosen Optimismus, der in Anmaßung umschlagen kann.

Bewegliche Teile im Turm sollten sich nach bestimmten Zeitmaßen drehen – wie bei einer gigantischen Uhr, die dem Menschengeschlecht anzeigte, daß die Stunde der Befreiung vom Kapitalismus geschlagen hatte. Eine Kunst, geboren auch aus dem Geiste der Physik, gedacht für ein „wissenschaftliches Zeitalter“. Von Ideologie einmal abgesehen, kann man sich der formalen Faszination auch heute nur schwer entziehen.

Ähnlich bemerkenswert auch das Luftfahrrad, das Tatlin nach sich selbst benannte („Letatlin“) und mit Gebrauchsanweisungen versah. Auch diese Erfindung zeugt davon, daß der „neue Mensch“ über die Wolken hinaus zu den Sternen strebt. Wie war das noch mit Dädalus und Ikarus: Gab es da nicht einige Pannen? Turm und Fahrrad bilden das optische Zentrum, jedoch nicht das Schwergewicht der Schau. Die zahlreichen Bühnenbild-Entwürfe belegen, daß Tatlin über enorme szenische Vorstellungskraft verfügte.

Typisierungen fürs Theater

Seine gezeichneten Figurinen, Anschauungsmaterial für Theaterrollen, stehen für eine entschiedene Typisierung, die freilich böswillig auch schon wieder als Entindividualisierung im Sinne eines gesichtslosen Kollektivismus mißdeutet werden könnte. Ganz anders die Porträts im späteren Werk: Hier bekommt der Einzelmensch sein Antlitz wieder zurück.

Tatlin hatte seine liebe Not mit den Sachwaltern der kommunistischen Kunstlehre. Arbeiten wie seine „Konterreliefs“ aus Holz, Metall und Schnüren, die aus der Bildfläche hervortraten und als Objekte in den Raum vorstießen, waren den Herrschaften nicht realistisch geschweige denn heroisch genug. Trotzdem halten manche nun der Kunsthalle vor, „in diesen Zeiten“ einen Kommunisten zu präsentieren. Kommentar überflüssig.

Eine stille Sensation verbirgt sich hinter der Ausstellung. Im Vorfeld wurde enorme Forschungsarbeit geleistet. Listete das bisher größte Werkverzeichnis nur 50 gesicherte Tatlin-Arbeiten auf, so sind es nun über 1300. Davon sind in Düsseldorf rund 320 zu sehen.

Wladimir Tatlin. Retrospektive. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4. Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 39 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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