Medium oder blutig? Gelsenkirchener, gegrillt! – Notizen aus der Inneren Coronei (4)

Foto (©): G. Herholz

Samstag, 2. Januar 2021. Der erste Blick aus dem Fenster bietet wenig Vergnügliches: der Himmel, die kleine Straße in Gelsenkirchen-Buer wie gewohnt Grau in Grau. Bis halb neun habe ich geschlafen, würde am liebsten als Bär überwintern, zurück in die Schlafhöhle und frühestens Mitte April wieder aufwachen. Ausreichend Speck dafür habe ich mir angefressen.

Meine Frau aber mault, ich solle besser einmal duschen. Ehehygiene, ihr Befehl wird mir zum Wunsch. Danach frühstücke ich, blättere in der Notausgabe der WAZ, die sich von der gewöhnlichen Ausgabe kaum unterscheidet. Es fehlt ihr bloß ein bisschen an Platz, da, wo sonst die Chefetagen aus Wirtschaft, Politik und Kirche ihre Wünsche ans Volk weiterreichen lassen. Ausnahmsweise kaum etwas zu lesen von Salbadern wie dem Essener Weih- und Militärbischof Overbeck, den die WAZ sonst gern und oft zu Wort kommen lässt: als Arbeiterführer zum 1. Mai etwa oder als Moralapostel wider gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Auch zum Jahresanfang wäre also mit einer ganzseitigen Überdosis Overbeck zu rechnen. Doch – zum Teufel mit ihnen – Cyberkriminelle haben zentrale Computersysteme der Funke Mediengruppe, damit Druckerei und Redaktionen lahmgelegt, erpressen nun den Medienkonzern: Bitcoins her oder ihr werdet über die Festtage niemandem pünktlich und herrlich erscheinen!

Da muss man doch etwas tun! Ich zum Beispiel wäre bereit, ein paar Euro an die Funkes zu spenden, falls deren Zeitungen noch einige Tage ausblieben. Obwohl ich sie bereits mit dem WAZ-Abo subventioniere. Vielleicht könnte man Crowdfunding …? Funkemediens aber haben IT-Spezialisten, Staatsanwälte und Kriminalisten eingeschaltet, um die Schadsoftware und dahinterstehende Hacker, Auftraggeber aufzuspüren. Bis dato wohl ohne Erfolg? Ein bisschen mehr Transparenz auch den Abonnenten gegenüber täte da gut.

Immerhin: So lernen die Leser*innen aber auch die Maskierten*außen, abseits ihrer lieb gewonnenen Cafés und Plätze, dass es durchaus auch ohne WAZ & Co. geht. Oder – Achtung: Verschwörungstheorie! – wollen übermächtige Medienkartelle uns durch kalten Print-Entzug abrupt ans Online-Abo gewöhnen, das Papierne unter Vorwänden flugs ins Papierlose verwandeln? Das wäre nicht schön, vor allem nicht für jene guten Journalist*innen, die es in den Rumpf-Redaktionen durchaus noch gibt, die aber –dezimiert und zu Content-Providern degradiert – nur wenig Haltung und Stil zeigen dürfen. Deprimierend.

Verwaiste Schülerbehälter auf dem Gelände der Gesamtschule Buer Mitte (© G. Herholz)

Graues Wetter, trostlose Zeitung, besch… Aussichten. Ich beschließe Gassi zu gehen, mit meiner Lethargie an der langen Leine, bei der Gelegenheit Brötchen zu kaufen und eine TV-Zeitung, um nachschauen zu können, welche alten Filme wann zum x-ten Male wiederholt werden. Dabei schleppe ich mich auf der Horster Straße auch am Eventcasino Capone´s Hinterzimmer vorbei, selbstverständlich geschlossen, jedenfalls nach vorne raus. Kurz darauf doch noch ein Hoffnungsschimmer. Ayna Grill & More will demnächst an der Ecke Vincke / Horster Straße ein Café eröffnen. Allerdings sind die Schaufenster des Eckhauses schon seit vielen Monaten mit dieser Ankündigung versehen.

Ja, das können sie in Gelsenkirchen: Veränderung und Verbesserung so lange ankündigen, bis deren Umsetzung völlig vergessen wird. Schalke 04 ist da nur ein Beispiel.
Fast wöchentlich bescheinigen Studien und Rankings Gelsenkirchen auch sonst einen Abstiegsplatz in Richtung Bedeutungslosigkeit. Die uneigennützige Markenberatung Brandmeyer aus Hamburg hat Gelsenkirchen mit Duisburg zu den am wenigsten beliebten Städten in Deutschland gekürt. Das ZDF verbreitete, dass GE nicht nur unattraktiv für Familien und Ältere sei, auch bei der Kinderarmut lasse sich die Stadt nicht lumpen. Und das Handelsblatt fand heraus, dass GE vor allem hinsichtlich der Künstlerdichte negativ auffällt. Hier belegt die Gelsenkirchener Boheme mit nicht einmal einem Künstler je tausend Einwohner den letzten Platz unter den größten 30 Städten Deutschlands. Halbwelt eben.

(© G. Herholz)

Zum Verzweifeln. Geduckt gehe ich weiter, doch Ayna Grill & More hat noch eine Überraschung parat für alle, die nicht allein der Status quo betrübt, sondern auch die Zukunftsaussichten fürs anstehende Coronajahr Zwei. Steigende Arbeitslosigkeit, Kampf um Impfdosen, Schlachten im Supermarkt, Reich gegen Arm, vieles ist möglich. Wer da als Krisenverlierer aufgeben muss, für den bietet Ayna in zwei Schaufenstern einen Ausweg aus jeder Tristesse:

„Hier Eröffnet Demnächst ein Selbst-Grill Restaurant“

Das nenne ich eine Perspektive! Wenn’s nicht mehr für alle reicht, ist man halt selbst dran. Grill nicht den Henssler, grill dich selbst! Barbe-me statt Barbe-you und Barbecue. So gut es eben geht. Der Nächste wird dir dankbar sein, denn nur der Erste in der Schlange vor der Glut wird wohl kaum satt werden. Mich erinnert das an zwanglose Parties der 80er Jahre. Einer wirft den Grill an, alle bringen ihr Fleisch mit oder Muttis Salat, ein paar die Getränke und Frauen – und einer was zum Kiffen.

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