Am Ende aller Mythen – Roberto Ciulli inszeniert „Die Bakchen“ des Euripides in Mülheim

Von Bernd Berke

Jesus stirbt am Kreuz und preßt seine letzten Worte hervor: Unser ailer Seelen seien verhärtet. Wir verschlössen Augen und Ohren vor dem Leid.

Der Messias ist nicht allein. Ton ab, Kamera läuft; wie beim Gladbecker Geiseldrama? Doch dann zeigt sich, daß hier das Leben Jesu verfilmt wird. Die Kameras werden schließlich abgebaut, der Gottessohn steigt über eine Leiter vom Kreuz. Auch er ist nur ein Schauspieler. Kult und Mythen sind vergangen, sie existieren allenfalls noch auf Zelluloid.

So beginnt in der Mülheimer Stadthalle Roberto Ciullis Inszenierung des Euripides-Dramas „Die Bakchen“. Das Stück entstand etwa 406 v. Chr. Der Jesus-Auftritt zeigt mithin, wie überaus frei Ciulli abermals mit seiner Vorlage umgegangen ist. „Nach Euripides“ heißt es im Programmheft. Roberto Ciulli und Helmut Schäfer haben das Griechenstück mit Texten von Baudelaire, Pavese, Nietzsche und Hölderlin „angereichert“.

Ciulli hat erneut ausufernd-bildkräftige szenische Phantasie walten lassen. Der Fotorealist Howard Kanovitz hat mit antikisierenden Versatzstücken einen Traumraum aus Grüften und Grabsteinen entworfen – ein Bühnenbild beinahe im Geiste von Giorgio de Chirico, dessen Arbeiten das Programmheft füllen. In diesem unwirklichen Raum verlagert sich alles Geschehen ins Innerseelische, wird zum (Alp)-Traumspiel.

Der Rausch-Gott Dionysos will, von Asien kommend, Theben erobern. Einige Frauen sind – wie man hört, aber nicht sieht – seinem Lockruf schon gefolgt, haben die Webstühle verlassen und geben sich orgiastischen Riten hin. Es sind die „Bakchen“ (Bacchantinnen). Thebens Machthaber Pentheus (knittrig auf verlorenem Vernunft-Posten: Volker Roos) ist die Gegenfigur. Der Rationalist sieht die Felle der Ordnung davonschwimmen. Er nimmt Dionysos, der Menschengestalt angenommen hat, gefangen. Doch der Gott stellt Pentheus eine furchtbare Falle, die rasenden „Bakchen“, darunter Pentheus‘ Mutter, reißen ihn in Stücke. Auch davon erfährt man nur durch einen „Botenbericht“. Bis heute ein Rätsel: Wollte Euripides der Vernunft oder dem Rausch das Wort reden? Geht es gar darum, daß das Rauschhafte nicht verdrängt werden darf, wenn es nicht zerstörerisch wiederkehren soll?

Ciulli jedenfalls macht über weite Strecken kein großes Drama daraus: Sein „Dionysos“ (Hannes Hellmann) ist nicht magisch-göttlich, sondern ein etwas überdrüssiger „Typ“ mit wallendem Langhaar. Seine Wein-Seligkeit wirkt nicht sehr lustvoll. Er schleppt die Flasche eher wie ein „Penner“ mit sich herum. Auf dem Todestrip ist er auch noch. Sein erster Monolog („Der frohe Tote“), in dem er sich den Raben und Würmern zum Fraß anbietet, stammt von Baudelaire. Die Götter müssen verrückt sein.

Nach dem Ende aller Tragödien folgt die Farce: In einer langen Szene geht es zu wie auf dem Jahrmarkt. Schwebende Jungfrau, Kasperltheater, King-Kong-Affe, Orient- und Feuerzauber. Da wirkt Dionysos‘ Befreiung aus Pentheus‘ Ketten wie der Auftritt eines Kirmes-Entfesselungskünstlers, sein Ringkampf mit Pentheus hat etwas von Boxbuden-Atmosphäre.

Nach der Pause: Pentheus‘ Mutter Agaue (Veronika Bayer) will ihren Wahn aufrecht erhalten, sie habe einen Löwen und nicht ihren eigenen Sohn zerfleischt. Ihr Vater Kadmos schlägt sie, will ihr die Wahrheit einbleuen. Die Szene wiederholt sich, es könnte endlos so weitergehen. Ein ewiger Kreislauf aus Schuld und Lüge. Dionysos schläft darüber ein, Wein rinnt aus seiner Flasche. Die Mythen sind vergangen.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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