Papier spielt eine wichtige Rolle, Zettel, Blätter, Formulare. Der Film zeigt den südafrikanischen Künstler William Kentridge, wie er mit Kohle auf alten Blättern malt, handschriftlich geführte Listen offensichtlich, bei denen nicht klar wird, was aufgelistet ist.
Bald schon merken wir, daß dieser zunächst ganz real daherkommende Film mit hübschen Trickelementen garniert ist; gleich zweifach taucht der Künstler auf, der einerseits energisch den Stift schwingt, stäubt, tupft, andererseits sich kopfschüttelnd dabei beobachtet.
Was singen sie denn?
Die gezeichneten Figuren in seinen Bildern tanzen, laufen, schuften, und all dies wird sehr schön unterlegt vom Gesang einer – real existierenden! – fünfköpfigen Herrengruppe samt Klavierbegleitung auf der Bühne. Der Gesang hat Dynamik, hat Soli und auch so etwas wie eine Klimax. Leider erfährt das Publikum nicht, was die Herren singen, und das ist schade, aber vermutlich auch gewollt. Das Stück bleibt hier im Gefühlig-Ungefähren. Und schon ist der erste Teil zu Ende. Pause im Stück „Sibyl“, das im Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele den Anfang macht.
20 Minuten mehr
„Sibyl“ wurde angekündigt mit einer Länge von einer Stunde 20 Minuten inklusive Pause, was nicht eben viel ist. Etwas länger dauert es dann aber doch, so um die 20 Minuten.
Der äußerst sparsam ausgestattete Programmzettel spricht von der zweiten Hälfte als einer „Kammeroper“ namens „Waiting for the Sibyl“. Und er wartet mit starken, intensiven Bildern auf, von denen viele durch ausgeklügelte Projektionen entstehen. Allerdings, hier zeigt sich Kentridge als Maler und Zeichner, werden sie in ihren strengen Kompositionen letztlich nicht verändert, obwohl mehrere Male viel szenische Bewegung in ihnen ist. Die Bilder entstehen und vergehen. Wunderschöner Gesang ist zu hören, kraftvoll, manchmal frech, manchmal auch sehr traurig. Gern würden wir sagen, wer die Sängerin war, die hier so herzzerreißend sang, doch geizt das Programm mit Informationen über Künstler und Texte.
Prophetin Sibyl von Cumae
Bevor wir jetzt weitere Ausstellungsdetails behandeln, muß wohl erzählt werden, worum es bei „Sibyl“ eigentlich geht. Sibyl hieß mit vollem Namen Sibyl von Cumae, war Prophetin von Beruf und schrieb, was sie in der Zukunft erblickte, auf Eichenblätter, die sie vor ihrem Höhleneingang stapelte. Der Wind aber mischte die Blätter kräftig durch, und wenn nun jemand so ein Sibyl-Blatt fand, konnte er keineswegs sicher sein, daß die Prophezeiung tatsächlich ihn betraf oder einen anderen Menschen. Es ist dies also ein Spiel mit der Geworfenheit, dem Zufall, dem unsinnigen Irrglauben der Menschen an ihre Bestimmtheit, wiewohl: In ganz bestimmten Konstellationen würden die Botschaften ja stimmen.
Schön gesungen, schön getanzt
Überwältigende, oft bewegliche Projektionen (bis auf einige akzentuierende Farbtupfer schwarzweiß) wechseln ab mit dunkelbunten Bühnenszenen, die, so könnte man es vielleicht deuten, Menschen in ihrem Streben nach Zukunftswissen zeigen. Doch vieles bleibt verschwommen, ahnungsvoll, doch unausgesprochen. So tanzt, sehr reizvoll anzusehen, eine Tänzerin aus Fleisch und Blut (Nhlanhla Mahlangu, auch Regie) wie in Trance mit einer projizierten, gezeichneten Kollegin lang anhaltend eine Art Duett.
Es gibt kräftige, aber uneindeutige Andeutungen von Handlungsorten wie einem Büro oder einer Straßenszene, in denen Personen laut und aufgekratzt Blätter aufsammeln, herumtanzen, herumtaumeln. Und immer wieder, eigentlich permanent, gibt es (englischsprachige) Zettel, deren Inhalte dankenswerterweise übersetzt und über der Bühne projiziert werden: „Wait AGAIN for Better GODS“ wäre einer von ihnen, „Der Winter endet um 11 Uhr“ ein anderer. Was sagt uns das? Viele Zeilen strotzen vor Banalität und wären problemlos in einen Schlagertext von Roland Kaiser integrierbar. Oder gib es einen verborgenen Subtext?
Tragik des Menschseins
Und ist das hier jetzt „typisch südafrikanisch“? Immer wieder hat William Kentridge, weißer Südafrikaner, sich in seiner Arbeit mit Apartheid, Unterdrückung und Ausbeutung in seinem Heimatland befaßt. Doch abgesehen von der Musik und davon, daß hier mit Ausnahme des Pianisten ausschließlich dunkelhäutige Personen agieren, ist ein ausschließlicher Südafrika-Bezug eigentlich nicht auszumachen. Prügelcops à la Romeo Castellucci (sein Stück „Bros“ lief parallel im Kleinen Haus) sind hier an diesem Abend nicht unterwegs. Eher fühlt man sich konfrontiert mit der Tragik des Menschseins an sich, egal wo auf diesem Planeten.
Unverwechselbare Stilmittel
Kentridge, in diesem Punkt gleichen seine Arbeiten denen etwa von Robert Wilson und manchen Tanztheatern, arbeitet mit einem großen Bauchladen unverwechselbarer Stilmittel, zu denen – natürlich – seine gezeichneten und häufig animierten Bildvorlagen auf „gebrauchtem“ Papier gehören, scherenschnitthafte Gestalten, archaische Megaphone, Hochsitze und ein bißchen Zahnrad- und Kettentechnik hier und da. Oft auch kennzeichnet seine Arbeit durchgängige Bewegung, wie es exemplarisch bei der Ruhrtriennale 2019 im Stück „The Head and the Load“ zu erleben war, wo eine nicht endende Figurenkarawane als Projektion und Schattenspiel über die Bühne zog. Eingefleischte Kentridge-Fans – doch, doch, die gibt es! – haben das in Recklinghausen vermißt.
Ungewöhnlicher Start
Letztlich ist es erstaunlich, daß die Ruhrfestspiele 2022 mit einem Gesamtkunstwerk wie „Sibyl“ beginnen, traditionell hätte es eher in die Jahrhunderthalle gepaßt. Doch warum nicht? In den nächsten Tagen geht es vergleichsweise traditionell weiter. In „Annette, ein Heldinnenepos“ (ab 12. Mai) begegnen wir in der Titelrolle der wunderbaren Corinna Harfouch, und „Eurotrash“ (ab 20. Mai) mit Angela Winkler und Joachim Meyerhoff wird ein Theaterfest. Da hat das Programmbuch nicht übertrieben.
- Wahrscheinlich ist alles ausverkauft. Trotzdem, für alle Fälle, die Termine:
- „Annette, ein Heldinnenepos“: 12., 13., 14. Mai
- „Eurotrash“: 20., 21., 22. Mai
- Tel. 02361 / 92180
- www.ruhrfestspiele.de