Begegnung musikalischer Kulturen: Das Essener Festival „NOW!“ öffnet neue Horizonte

Alexej Gerassimez, in Essen-Werden geboren, war Solist in Tan Duns „The Tears of Nature“ in der Philharmonie Essen. (Foto: Alexej Lund)

15 Ur- und deutsche Erstaufführungen, ein weiter Blick auf außereuropäische Musik von Indien über Afrika bis Indonesien, ein Schwerpunkt auf Korea und spannende Experimente, die europäische klassische Instrumente mit solchen aus anderen Kulturen kombinieren: Die 12. Ausgabe des Essener Festivals „NOW!“ kann eine respektheischende Bilanz vorlegen.

Die „Neuen Horizonte“, die das Motto versprach, wurden tatsächlich erreicht. Eigentlich wäre jede einzelne der so sorgsam kuratierten 17 Veranstaltungen wert, ausführlich betrachtet zu werden. Das Herauspicken von „Highlights“ ist nicht gerecht, denn wenn das eine Konzert mit Opulenz und Aufwand aufwartet, punktet das andere mit konzentrierter Intimität oder außergewöhnlichem Programm. Und so spektakulär etwa „The Tears of Nature“ auftrumpfen konnte mit den üppig besetzten Duisburger Philharmonikern, allein fünf Schlagzeugern im Orchester – plus Alexej Gerassimez als Solisten – und Komponistennamen wie Tan Dun oder dem persönlich anwesenden Toshio Hosokawa: Die jungen koreanischen Studenten, zwischen 26 und 40 Jahre alt, die sich im Eröffnungskonzert präsentierten, verdienten genauso Aufmerksamkeit.

Younghi Pagh-Paan, Grande Dame unter den koreanischen Komponistinnen. Nach ihr ist ein Wettbewerb benannt, dessen Sieger in Essen vorgestellt wurden. (Foto: Si-Chan Park)

Sie haben den seit 2015 bestehenden Kompositionswettbewerb gewonnen, der nach der Grande Dame der koreanischen Komponisten, Younghi Pagh-Paan benannt ist. Vier der fünf sind Frauen: Yonghee Kim kreuzt in ihrem Stück „Croquis in the Air“ das koreanische zitherähnliche Instrument Geomungo mit europäischen Streichern. Gitbi Kwon lässt ein koreanisches Gayageum mit der aparten Kombination von Gitarre, Flöten, Violine und Cello auftreten. Laewang Jang untersucht in seinem „Isomere“, wie sich europäische und fernöstliche Instrumente unterscheiden, aber auch in ihren Klangfarben annähern und ergänzen. Hongjoo Jung verbindet Ätherisches und Tänzerisches, und Yeoul Choi – die unter anderem in Essen studiert hat – fächert in ihrem Trio „Passenger 1“ den Tonraum in zunehmender Zerstreuung auf.

Vielfältiges Spektrum heutigen Komponierens

Wie vielfältig das Spektrum heutigen Komponierens auch unter dem Einfluss eines internationalen Austauschs geworden ist, war in den Konzerten zwischen 27. Oktober und 6. November sinnfällig erfahrbar. Deutlich wurde auch, wie weit hergeholt manche Theorien einer „kulturellen Aneignung“ bei einem Festival wirken, das auf gegenseitigen Austausch auf Augenhöhe, auf den staunenden Blick auf Fremdes und Eigenes, auf Durchdringen, aber auch Schärfen von Identitäten setzt.

Exemplarisch mag dafür das jahrelang vorbereitete Projekt des Italieners Riccardo Nova stehen, eines Experten für indische Musik, der in Austausch mit zahllosen Musikern in Südindien steht. „Hier entsteht wirklich Neues“ resümiert der Essener Komponist Günter Steinke, von dem eine Uraufführung im Abschlusskonzert erklang. Denn Nova arbeitet in seinem „Mahābhārata“, der Instrumentalsuite aus einem großen Opernprojekt, mit indischen Instrumenten und Musikern, Schlagwerk und Elektronik. Mit Varijashree Venugopal holte er eine führende indische Sängerin in die Essener Philharmonie.

Lukas Ligeti (Foto: Markus Sepperer)

Das nicht einfache Vorhaben, Musik aus einem Kontinent, der „klassische“ Musik im westlichen Sinn nicht kennt, zum Festival „NOW!“ zu bringen, löste Lukas Ligeti, Sohn von György Ligeti, mit den Musikern von „Burkina Electric“ aus Burkina Faso und dem Ensemble BRuCH. Eine faszinierende Begegnung: Rhythmen und Klänge traditioneller westafrikanischer Musik, verbunden mit Dance Grooves aus dem 21. Jahrhundert, treffen auf ein Kammermusik-Ensemble aus Sopran (Maria Heeschen), Flöte, Cello und Klavier.

In den pazifischen Teil der Welt führte „GAME-land“, ein Konzert mit dem indonesischen Gamelan-Ensemble Kyai Fatahillah und dem Perkussionisten Max Riefer. Er hat lange Zeit in Indonesien gelebt und spielte in einer Uraufführung des Komponisten Dieter Mack, einem weltweit renommierten Spezialisten für Gamelan-Musik. Ungewöhnlich an den Werken des Leiters des Gamelan-Ensembles, Iwan Gunawan ist, dass sie in europäischer Weise notiert sind: Kyai Fatahillah ist das einzige indonesische Ensemble, das Noten liest und nach Aufgeschriebenem musiziert. Gunawan und Mack wurden ergänzt von Werken des Niederländers Klaus Kuiper und des in Indonesien geborenen Roderik de Man.

Triumph des Rhythmus bei Tan Dun

Natürlich ermöglichte „NOW!“ wieder die Begegnung mit Werken der „großen Namen“ der Neuen Musik, etwa Georges Aperghis, Luciano Berio, Brian Ferneyhough, Iannis Xenakis, Isang Yun oder Bernd Alois Zimmermann. „The Tears of Nature“, das bekannte Schlagzeugkonzert Tan Duns, erklang im Konzert der Duisburger Philharmoniker unter der souveränen Leitung von Jonathan Stockhammer mit dem in Essen-Werden geborenen Alexej Gerassimez als Solisten. Hier triumphiert tatsächlich der Rhythmus, und die Perkussion ist nicht eine solistische Beigabe, sondern der Herzmotor der gesamten Komposition – ob er sich am Anfang in der robusten Harfe und dem trockenen Knall von aufeinander schlagenden Kieselsteinen äußert oder im weichen Sound des Marimbaphons.

Malika Kishino (Foto: TuP Essen)

Mit einer einsamen rhythmischen Figur zweier Holzklötzchen beginnt auch die Uraufführung des Percussion-Konzerts der in Köln lebenden Malika Kishino, die selbst erzählte, wie sie mit den zeremoniellen Instrumenten in einem buddhistischen Tempel in Kyoto aufgewachsen ist und jetzt japanische Claves, Becken und Metallplättchen für ihr neues Konzert nutzt. Das beginnt Gerassimez mit nuanciertem Spiel u.a. auf verschieden intonierten Holzblöcken, begleitet von einem rhythmisch-geräuschhaften Orchester. Einen signifikanten Wechsel der Klangfarben bringt dann der Übergang auf diverse Metallstäbe und –platten. Die fünf Schlagzeuger im Orchester sorgen für eine veritable Orgie an perkussivem Kolorit – dabei schreibt Kishino aber über weite Strecken kammermusikalisch fein, verzichtet auf fette Tutti und massierte Volumina. Das zyklisch angelegte Konzert endet fast, wie es begonnen hat, aber der Zuhörer, der mit dem musikalischen Material einen Prozess durchlebt hat, hört das hölzerne Ticken dann mit anderen, vielleicht weiseren Ohren.

Dass sich diese Klangwelten öffnen können, ist einer beispielhaften Kooperation vieler Unterstützer mit der Philharmonie Essen zu verdanken: der Folkwang Universität der Künste mit dem unermüdlichen Günter Steinke als Inspirator, der Stiftung Zollverein – mit einem eigenen Konzert mit dem Gitarristen Fred Frith & Friends –, der Kunststiftung NRW, dem Kultur- und Wissenschaftsministerium des Landes und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, ohne die mancher künstlerische Höhepunkt und die vielen Aktionen für Kinder und Jugendliche nicht möglich wären.

In Zeiten, in denen schon wieder versucht wird, vorzutäuschen, durch Kürzungen in der Kultur könnten finanzielle Probleme gelöst werden, sind solche manifesten Bekenntnisse zum aktuellen und produktiven Musikleben mehr als nur Gold wert.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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