Satans Gesicht tanzt: Szene aus Stockhausens „Samstag aus Licht“ eröffnet das Festival „NOW!“

„Luzifers Tanz“ beim Festival „NOW!“ in der Philharmonie Essen. Die Aufstellung der Musiker an der Stirnwand des Alfried-Krupp-Saales ermöglicht es, die szenische Vision Stockhausens anzudeuten. Das rote Licht steht gerne für Teufel und Hölle, aber Stockhausen hatte dem „Samstag aus Licht“ eigentlich die Farbe Eisblauschwarz zugeordnet. (Foto: TuP/Sven Lorenz)

„Lin-ker Au-gen-brau-en-tanzzzz!“ zischt der Bass. Er verkörpert Luzifer, steht im Zentrum der Stirnwand der Essener Philharmonie unter der Orgel und dirigiert ein Gesicht. Es ist die Fratze des Diabolus, des zerstörerischen Geistes. Mit einiger Fantasie lässt sie sich erschließen aus den nacheinander beleuchteten Segmenten der Wand aus Galerie und Balkonen.

Musiker sitzen dort, spielen, bewegen sich rhythmisch. Am Ende ergeben die rot strahlenden Sektoren so etwas wie ein maskenhaftes Antlitz. Und der Traum des Komponisten und kosmischen Mystikers Karlheinz Stockhausen wird wenigstens in einer Ahnung wahr: In „Luzifers Tanz“ aus seinen Musiktheaterwerk „Samstag aus Licht“ sollte das Harmonie-Orchester aus 70 Bläsern und zehn Schlagzeugern, übereinander gestaffelt aufgestellt, ein Gesicht darstellen. Die Philharmonie Essen hat für diese Vision eine passende räumliche Grundlage.

Wahrscheinlich das anspruchsvollste Konzert der letzten Jahre

Die Deutsche Erstaufführung der Originalversion für Harmonieorchester, Bass, Piccoloflöte und Piccolotrompete von „Luzifers Tanz“ eröffnete das Festival „NOW!“ für Neue Musik auf spektakuläre Weise. Ein Projekt der Superlative, das wegen seiner fantastisch überzogenen Dimension selbst von großen Institutionen des Musiklebens kaum realisiert werden kann. Nach zwei Jahren Vorbereitung war es in Essen möglich – dank der Kooperation mit allen Musikhochschulen in Nordrhein-Westfalen (Detmold, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster). Instrumentalisten aus deren Klassen erarbeiteten sich in 77 Proben über Monate hin Stockhausens visionäres Werk. „Es ist wahrscheinlich das anspruchsvollste Konzert, das wir in den letzten zehn Jahren gemacht haben“, sagte der 2022 an die Oper Köln wechselnde Intendant Hein Mulders.

Der „Samstag“ gehört dem gefallenen Lichtengel

„Luzifers Tanz“ ist die dritte Szene aus Karlheinz Stockhausens „Samstag aus Licht“, einem Teil des gewaltigen, über 30 Stunden dauernden „Licht“-Zyklus, den der Visionär aus Kürten bei Köln zwischen 1977 und 2003 geschaffen hat: sieben Musiktheaterwerke, benannt nach den Tagen der Woche, im musikalischen Material abgeleitet aus einer „Superformel“ und konstruiert aus Formeln, die ähnlich wie Wagners Leitmotive wiedererkennbar sein sollten. Alle sieben Teile verbindende Personen sind Michael, der schöpferische Engel und Symbol des Göttlichen, Eva, die Mutter, Menschenfrau und Prinzip des Weiblichen, und Luzifer, der reine Geist und eine zerstörende Kraft. Der „Samstag“ ist ganz dem gefallenen Lichtengel gewidmet, der in seinem Tanz die Teile seines Gesichts bewegt: Augenbrauen, Augen, Backen, Nasenflügel, Oberlippe, Zunge, Kinn.

Erfahrener Stockhausen-Dirigent: Adrian Heger. (Foto: TuP/Sven Lorenz)

Mit einem raumfüllenden rhythmischen Crescendo, dessen Ursprung im Saal kaum ortbar ist, beginnt diese Synthese aus Klang, Licht und Bewegung. Die Musik verändert sich, spaltet sich auf. Dann hört man Reminiszenzen an andere „Tage“ des Zyklus, etwa an den Kampf himmlischer Trompeten gegen die teuflischen Posaunen aus „Dienstag“. Wunderbar gestaltet Christopher Seggelke – stehend, knieend, schließlich liegend – sein Trompetensolo, gedacht als Protest gegen das satanische Tanzvergnügen. Folgerichtig erinnert es an Michaels große Szenen aus „Donnerstag aus Licht“, die Stockhausen für seinen Sohn Markus geschrieben hatte.

Myriam Ghani bringt als „schwarze Katze“ im „Zungenspitzentanz“ mit ihrer traumsicher artikulierenden Piccoloflöte einen ambivalenten Humor ins Spiel. Adrian Heger, ein erfahrener Stockhausen-Dirigent, koordiniert souverän die weit entfernt und in großen Abständen positionierten Musiker. Klang und Rhythmus, Verschmelzung und Separation, weich schmeichelnde und hart auftrumpfende Passagen gelingen gleichermaßen.

„Luzifers Traum“. (Foto: TuP/Sven Lorenz)

Dem Tanz vorgeschaltet war die erste Szene aus „Samstag aus Licht“: In „Luzifers Traum“ schlüpft der Bass (Damien Pass mit klarer Stimmfülle) aus einem blau beleuchteten Raum vor den Vorhang, macht sich an einem Flügel zu schaffen, wirft sich in einen Liegesessel, als der Pianist aus einer rot dampfenden Spalte auf die Bühne kommt und fällt in Meditation, Trance oder Schlummer. Alphonse Cemin begleitet am Flügel das Murmeln des Schläfers, der öfter bis 13 zählt (Verweis auf das Klavierstück XIII oder auch Zahlenmystik?) oder Worte raunt, bis ein kleiner humoristischer Coup den „Traum“ beendet.

Mit dieser grandiosen Eröffnung haben die Philharmonie Essen und ihre Kooperationspartner eine Messlatte gelegt, nach der andere Neue-Musik-Festivals ziemlich hoch springen müssen. Dass die weiteren Konzerte unter dem Thema „Mikrokosmos – Makrokosmos“ (das übrigens auch auf Stockhausen verweist) zwar nicht die Größe, wohl aber die Qualität dieser Eröffnung erreichen, davon ist bei der ehrgeizigen Konzeption von „NOW!“ auszugehen.

Das Festival „NOW!“ dauert noch bis 7. November. Programm, Information und Karten unter www.theater-essen.de.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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