
Pierre Bokma (li.), William Cooper. (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)
„Ich bin ein Mann“ sagt der Mann auf der Bühne. Mühsam erhebt er sich vom Boden, mühsam zieht er Hemd und Hose an. Es ist der erste gesprochene Satz an diesem Theaterabend, verzweifelt-trotzige Selbstverortung. „Ich bin keine Frau“ setzt er nach, und haarklein wird er uns späterhin berichten, was er damit meint.
Choreographen inszenierten
Der Mann, mittleres Alter, gebeugte Körperhandlung, heißt im Stück Orfan und wird gespielt von Pierre Bokma, einer lange schon festen Größe im Bochumer Ensemble. Das Stück heißt „Voodoo Waltz“, wurde geschrieben von der jungen Slowenin Janja Rakus und von den niederländischen Tänzern Imre und Marne van Opstal, Geschwister die beiden, als hybride Hervorbringung aus Schauspiel, Tanz und viel Deklamation zu einem intensiven Bühnenprodukt verarbeitet, zu sehen nunmehr im Bochumer Schauspiel.

Chloé Albaret, Ramon John (von links). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)
Ivana, Orfan und Wilhelm sind die schauspielerischen Hauptfiguren des Stücks; Ivana (Stacyian Jackson) war Rechtsanwältin in dem Land, das sie verlassen mußte (Slowenien vielleicht?) und hat mit manchen Fällen aus dieser Vergangenheit noch nicht abgeschlossen; Wilhelm (William Cooper) zieht es zum Göttlichen, Psalmen (aus dem Off) säumen seinen Lebensweg, Orfan schließlich (sein Name aus dem Englischen übersetzt bedeutet Waisenkind) ist ein unglücklicher Sexarbeiter, zu dessen regelmäßigen Aufträgen es gehört, dem „Oldie“ mit seinen bizarren Vorlieben zu Diensten zu sein. Schließlich wird er in ihm seinen Vater erkennen, der ihn schlug und mißbrauchte und beizeiten zu eben jenem gescheiterten, unglücklichen Menschen machte, den Pierre Bokma in dieser Inszenierung sehr berührend gibt.

Boston Gallacher, Chloé Albaret, Pierre Bokma, Emilie Leriche, Ramon John, William Cooper (v.l.). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)
Rotlichtviertel
Die Menschheit zwischen hemmungslosem Trieb und Göttlichkeit, gut küchenfreud-ianisch zwischen „Es“ und „Über-Ich“, dargeboten in drei Bühnencha-rakteren, das ist doch schon was. Aber anrüchig bleibt es auf allen Ebenen, weshalb der Spielort irgendwie – Kulissen gibt es eigentlich nicht, wenn man von den leise ab und zu ihre Position verändernden Stoffbahnen absieht – im Amsterdamer Rotlichtviertel angesiedelt ist. Als eine Art Fremdenführerin hat da Puffmutter Kinga Xtravaganza ihre auftrumpfenden Monologe, die ebenso wie die Ex-Anwältin Ivana von der bühnenmächtigen, dunkelhäutigen Stacyian Jackson gespielt wird. A propos: Vorwiegende Bühnensprache ist Englisch, aber die Übersetzungen in der Projektion auf den Oberrand der Bühne kommen da gut mit, Deutsch in Englisch, Englisch in Deutsch, die Technik ist uneingeschränkt zu loben.
Androgyne, kraftvolle Wesen
Etwas ärgerlich ist nur, daß alles in allem eben recht viel Text gesprochen (und visuell übersetzt) wird. Der unüberwindliche Lesedrang hindert einen daran, den Tänzern beim Tanzen zuzugucken. Drei Paare, androgyne, kraftvolle Wesen, geben dem Schauspiel so etwas wie eine zweite, unaufdringlich-präsente, körperliche Nachzeichnung, sind schwerelos, schemenhaft manchmal gar. In gewisser Weise sind diese jungen Tanzkünstlerinnen und –künstler – „internationaler Cast“, laut Presseinformation – in ihrer Enthobenheit geradezu der idealisierte Gegenentwurf zu den armseligen Epileptikern. Wenn man es denn so sehen will.
Choreographie und Tanz finden oft nicht zueinander
Denn daß die Kombination – diese Kombination – von Opstals Choreografie und Rakus’ Geschichte künstlerischen Mehrwert schüfe, kann man auch nicht unbedingt sagen. Choreographie und Schauspiel bleiben oft für sich, nehmen nicht wirklich Beziehung zueinander auf. Dabei mag dem einen im Zuschauerraum zu viel Theater im Tanzstück sein, dem anderen zu viel Tanz in einem Plot, den man ja auch ganz naturalistisch hätte anlegen können.
Eher grau in grau als Voodoo Waltz
Nüchtern besehen sind die Geschichten, die hier erzählt werden, weder Voodoo noch Waltz, eher kümmerliches grau in grau. Unbestreitbar aber auch reihen sich zwei Stunden lang bemerkenswerte Einzelleistungen aneinander. Auch soll nicht bestritten werden, daß wir hier Helden „auf der Suche nach einer neuen Identität in einer Welt, die nicht wirklich für sie gemacht zu sein scheint“ (Presseinformation) begegnen. Nun, die trifft man im Theater relativ oft, aber oft sind sie weniger schillernd oder bedauernswert, je nachdem, als jene in „Voodoo Waltz“ am Bochumer Schauspielhaus. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß frenetisch, weitere Aufführungen folgen.
- Die nächsten Termine: 31.1., 1.2., 16.2., 17.2., 20.2., 22.2., 23.2.
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