Marlene Streeruwitz ist eine der politisch profiliertesten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ihr neuer Roman heißt „Auflösungen“. Denn alles löst sich auf: gesellschaftliche Zusammenhänge, soziale Strukturen, politische Gewissheiten, kulturelle Übereinkünfte, familiäre Beziehungen.
Der Soziologe Andreas Reckwitz hat kürzlich den „Verlust“ als „Grundproblem der Moderne“ beschrieben. Der Roman von Marlene Streeruwitz ist der Versuch, das Gefühl des Verlusts literarisch einzufangen und zu demonstrieren, wie ein Individuum komplett aus der Bahn geworfen wird, zu einem modernen weiblichen Odysseus mutiert und nirgendwo mehr Halt und Heimat findet.
In den Ruinen ihres Lebens
Nina Wagner lebt als Lyrikerin in Wien und steht vor den Ruinen ihres Lebens. Ihre Ehe ist geschieden, ihre Tochter will kaum noch etwas von ihr wissen. Ihre Versuche, sich als bisexuelle Freu mit erotisch wechselnden Interessen wieder frisch zu verlieben, scheitern kläglich. Die Marotten und Moden der Kunst-Schickeria gehen ihr genauso auf die Nerven wie der Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft in der Politik. Sie will einen Neuanfang, nimmt im März 2024 einen Lehrauftrag an der Uni in New York an, hofft, ihrem Leben eine Wendung zum Positiven geben zu können. Doch sie kommt vom Regen in die Traufe: Denn auch Amerika ist längst in Auflösung begriffen und reißt sie in einen aberwitzigen Strudel aus Verlust und Angst, bringt sie in einen Zustand wahnhafter Verwirrung, der ihre Gedanken untergräbt und auch ihre Sprache regelrecht auflöst.
Irrfahrt durchs höllische Labyrinth
Die Suche nach ihrem Apartment gleicht einer Irrfahrt durch ein höllisches Labyrinth. An der Uni herrscht seit dem Massaker der Hamas und dem Krieg in Gaza ein Klima der Angst und Überwachung. Durch ihren Kopf flackern Erinnerungen an ihre schwierige Kindheit und ihre kaputte Ehe, sie vermischen sich mit sexuellen Träumen und erotischen Obsessionen, werden übermalt von den aktuellen Erlebnissen. Freunde haben sich ins Private zurück gezogen, ihre Studenten fürchten sich, offen ihre Meinung zu sagen.
Wochenlang versucht Nina, ihrem neuen Alltag einen festen Rahmen zu verleihen. Dann stürzt sie abrupt ins absolute Chaos und gerät, nachdem sie auf der Straße überfallen wurde, in einen bizarren Höllentrip, auf dem ihr kuriose Typen begegnen und sie vor Schmerzen kaum denken kann.
Sturzflut aus Gedanken und Gefühlen
Die Erzählerin ist immer ganz nah bei Nina, scheint in ihrem Kopf zu leben. Die Sprache ist so abgehackt und brüchig wie alles, was gerade ungefiltert durch Ninas Gedankenwelt und Gefühlschaos rauscht. Die Sätze bestehen manchmal aus nur einem einzigen Wort. Oft haben sie keine Verben und keine Richtung. Dann muss der Leser der Sturzflut aus krausen Gedanken und ambivalenten Gefühlen einen Sinn abringen. Eine mühsame, aber lohnende Lektüre, spürt man doch, dass die Autorin uns sprachlich fragil und intellektuell ungeschützt mit den Grundproblemen der Moderne konfrontieren will. Man braucht starke Nerven und großes Durchhaltevermögen.
Marlene Streeruwitz: „Auflösungen“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2025, 417 Seiten, 28 Euro.