Ein fremdes Organ im Leib: David Wagners Krankheitsgeschichte „Leben“

Es beginnt damit, dass der Ich-Erzähler Blut erbricht.

Alsdann sehen wir diesen Menschen zunächst einmal als reine Physis, als Bündelung biochemischer Vorgänge, zurückgeworfen auf grundlegende Körperfunktionen, aufs kleine bisschen Leben, das da noch pulsiert.

Schon beim Zwölfjährigen hatte man damals eine Autoimmunkrankheit festgestellt. Jetzt ist nach vielen Jahren dringend eine Leber-Transplantation nötig. Der Erzähler hängt nun an dem und jenem Tropf, muss viele Untersuchungen über sich ergehen lassen. Beim Warten auf eine Spenderleber (wird das Organ überhaupt rechtzeitig eintreffen?) ist da zum einen eine unendliche, sich über alles senkende Müdigkeit. Dennoch – und trotz des medikamentösen Bewusstseins-Schleiers – regen sich auch noch Lebensgeister.

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In dieser Lage drängt alles zur Bilanz. Was liegt in der Waagschale? Einerseits eine seltsame Todessehnsucht. Wozu sich noch wehren oder gar aufbäumen? Andererseits ist die Freude an den Dingen des Lebens nicht erloschen. Es gibt eine Tochter, für die der Vater weiterhin da sein will. Doch selbst dieser innige Wunsch ist nicht ungebrochen.

David Wagner (Jahrgang 1971) hat sein Buch in 277 Kürzest-Abschnitte aufgeteilt, was ungefähr der Seitenzahl entspricht. Soll man argwöhnen, dass hier nur Lesehäppchen verabreicht werden? Unsinn. Die Einteilung passt zum notgedrungen flüchtigen Nachsinnen des Erzählers, das immer wieder erschlafft, wegdriftet und mühsam neu einsetzen muss. Eine solche Geschichte ist nicht mit langem Atem und weit ausholender epischer Geste erzählbar.

Das Buch spielt weit überwiegend in einer Berliner Klinik, allfällige Krankengeschichten der wechselnden Bettnachbarn und sonstige Krankenhaus-„Folklore“ (Klagelitaneien über Ärzte, übers Essen usw.) inbegriffen. Zwar befindet sich der Erzähler neben anderen Patienten, doch lebt oder vegetiert hier letztlich jeder in seiner eigenen Welt vor sich hin. In dieser Beschränkung entsteht eine eigentümliche Wahrnehmung; unerreichbar für Aufregungen des Tages, umso empfänglicher für zarten Anschein, Hauch oder Duft.

Schier endlos dehnt sich das Warten auf die Organspende. Eine dreiviertel Seite wird ausschließlich mit „Ich warte, ich warte, ich warte…“ gefüllt. Der Patient sammelt Wartezeit, noch und noch. Und er sammelt in seiner – gelegentlich galgenhumorig getönten – Vorstellung alle möglichen, auch bizarre Todesarten, wie sie täglich in den bunten Spalten der Zeitungen stehen.

In all diesen leeren Stunden schweifen Gedanken suchend umher, segeln Erinnerungen hinaus. Beispielsweise nach Mexiko, wohin der Kranke einst gereist ist. Oder nach Paris, wo er eine Zeit gelebt hat. Szenen aus verflossenen Frauengeschichten ziehen vorüber. Andrea, Rebecca, Katja, Hanja und wie sie alle geheißen haben. Was war wirklich bedeutsam?

Als die neue Leber schließlich zur Verfügung steht und der Patient sogleich viele Stunden lang operiert werden muss, finden sich an der Schwelle in der Mitte des Bandes einige weiße und graue Seiten ohne Text. Ein gestaltloses Rauschen, eine unsagbare Zeit.

David Wagner hat die Erfahrungen selbst durchlitten, die er hier beschreibt. Sonst könnte er wohl nicht so davon berichten. So umstandslos und schmucklos. Ohne Pathos, Selbstmitleid und jegliche Übertreibung. Ein Roman ist das nicht, auch keine Dokumentation. Aber was ist es dann? Ein Überlebensbericht? Eine Überlebens-Phantasie?

Versehen mit dem neuen Organ eines fremden, gestorbenen Menschen, fragt sich das aus dem narkotischen Dämmerzustand erwachte Ich bald, ob es nun womöglich eine Chimäre sei. Schafft sich die neue Leber nicht auch einen teilweise neuen Geist im ungewohnten Körper? Leib-seelische Grundfragen, über schon Thomas von Aquin umgetrieben haben…

Auf einmal dies: „In einer der Nächte wache ich auf und bin auf einmal glücklich (…) Plötzlich weiß ich wieder: Es gibt noch so viel da draußen. Es gibt das Kind, das mich noch ein paar Jahre braucht, es gibt so viel zu sehen, zu tun, zu lesen, es gibt so viel zu leben. Liegt nicht alles da?“

Doch so einfach ist das nicht. Das Weiterleben ist keine leichte Aufgabe. Die Operation mag glimpflich und mit günstiger Prognose verlaufen sein. Doch hernach muss sich der ganze Mensch neu denken, sich gleichsam neu zusammensetzen. Leben ist ungleich mehr als eine Organfrage.

David Wagner: „Leben“. Rowohlt. 288 Seiten. 19,95 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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