Requiem auf den toten Sohn, Hymne aufs Leben: David Grossmans „Aus der Zeit fallen“

Ein Mann und eine Frau sitzen beim Abendessen. Sie haben lange geschwiegen. Die dröhnende Stille ist kaum mehr auszuhalten.

Doch die Trauer über den Tod des geliebten Sohnes ist zu groß, die Wunde, die der plötzliche Verlust des viel zu früh Verstorbenen hinterlassen hat, zu tief. Die in ihrem unendlichen Schmerz erstarrten Eheleute sind sich fremd geworden, finden keine Worte, um sich und den anderen zu trösten und vom Leid zu erlösen. Da, endlich, schiebt der Mann seinen Teller beiseite und bricht das fünf Jahre währende Schweigen: „Ich muss gehn./ -Wohin? / – Zu ihm. / – Wohin? / – Zu ihm, nach dort.“

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Uri Grossman, der Sohn des israelischen Autors David Grossman, ist am 12. August 2006 gestorben. Der Libanon-Krieg war schon fast vorbei, da beendete eine Rakete der Hisbollah das Leben des gerade einmal 20jährigen Feldwebels der israelischen Armee. Vater David Grossman schrieb damals gerade an seinem Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“: Ora und Avram haben einen Sohn, der in den Krieg zieht. Weil sie es nicht ertragen, zu Hause zu sitzen und auf die Nachricht vom möglichen Tod ihres Sohnes zu warten, machen sich die beiden auf zu einer langen Wanderung durch Galiläa.

Wandern als Gottesdienst und Sinnsuche, wandern als Versuch, Verlust und Trauer zu bearbeiten: Auch im neuen Buch von David Grossman, „Aus der Zeit fallen“, spielt dieser Gedanke eine zentrale Rolle. Denn der Mann, der seit fünf Jahren in Schmerz und Stille gefangen und wie vereist ist, macht sich auf, um im Gehen „nach dort“ den Tod zu besiegen und das Leben zu finden.

Auf dem Weg nach „dort“, diesem Ort mythischer Dunkelheit, schließen sich dem Mann andere Menschen an, Frauen und Männer, die auch ihr Kind verloren haben und untröstlich sind über den schmerzlichen Verlust. Sie schwellen zu einem Chor der Gehenden an, die ihre Sehnsucht nach den toten Kindern in bewegende Worte kleiden und sich von nichts mehr, auch nicht von Mauern aufhalten lassen.

Es ist ein Text von archaischer Kraft: eine seltsame, verstörende Mischung aus antiker Tragödie und vielstimmigem Klagelied, es ist Requiem und Totenmesse und zugleich Hymne auf das Leben. Denn die Gehenden suchen nicht den Tod, sondern das Überleben, das Weiterleben und die Gewissheit, das tote Kind möge „dort“, wo immer das sei, seinen Frieden gefunden haben.

Nur die beiden Erzählstimmen, Chronist und Zentaur, sprechen in fortlaufender Prosa. Alle anderen Stimmen artikulieren sich in abgebrochen, zerhackt wirkenden Zeilen: Das mal lyrisch, mal stotternd anmutende Schriftbild spiegelt das Zerbrechen und den Verlust der Sprache im Angesicht des Todes. Die Lektüre des Buches fordert geduldige Leser, die bereit sind, sich auf den Schmerz der Trauernden einzulassen.

David Grossman: „Aus der Zeit fallen“. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Carl Hanser Verlag, München. 128 Seiten, 16,90 Euro.

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