Wo man endgültig stirbt

Ein Mann in den frühen Sechzigern kommt morgens in sein Arbeitszimmer. Am Schreibtisch sitzt seine Ehefrau. Er schöpft zuerst keinen Verdacht. Sie scheint in Lektüre versunken zu sein. Wahrscheinlich korrigiert sie wieder einen seiner Aufsätze – wie schon so oft seit so vielen Jahren.

Doch sie ist tot.

Sie hat ein letztes Schriftstück hinterlassen, korrigierende Anmerkungen offenbar, die sich freilich nach und nach als grundsätzlich gegen ihren Mann gerichtete Suada erweisen. Am Schluss dieser Ausführungen, aus denen fortan ausgiebig zitiert wird, verläuft ihre Handschrift zunehmend fahrig, schließlich taumelt sie ins Nichts.

Nach und nach scheint uns der Autor Matthias Politycki (wohl bekanntestes Werk: „Weiberroman“) nun die Anatomie der ehelichen Beziehung nachzureichen. Aber seine „Jenseitsnovelle“, der Titel deutet es schon an, soll nicht nur von dieser Welt sein. Zur „Novelle“ fällt einem die „unerhörte Begebenheit“ ein, die Goethe als gattungsbildend ansah.

Doch eigentlich geht es hier gemächlich zu. Stunde um Stunde hält Schepp nun Totenwacht, liest mit wachsendem Befremden, ja Entsetzen ihre finalen Aufzeichnungen, die bittere Bilanz eines langen Ehelebens.

Dieser Hinrich Schepp und seine Frau Doro haben sich gegen Ende der 70er Jahre kennen gelernt. Scheinbar unzertrennlich wurden sie, als er sich auf ihre Phantasie von Jenseits eingelassen hat. Ihre beunruhigende Vision: Nach dem irdischen Tod werde man zu einem See gelangen, der einen magisch anzieht und in dem man dann erst endgültig stirbt. Er sichert ihr zu, ihr in solchem Falle vorauszueilen und das Terrain zu sondieren. Für diese wohlfeile Zusage heiratet ihn Dorothee Wilhelmine Renate Gräfin zu Hagelstein (welch ein gebastelter Name!) – und opfert ihre mögliche Karriere.

Über Jahrzehnte hinweg hat sie sich einlässlich mit dem chinesischen Weisheitsbuch „I Ging“ befasst, wohingegen er sich als Sinologe eine entlegene, aber leidlich auskömmliche Expertennische gesucht hat. Esoterikerin trifft Skeptiker mit zynischen Anwandlungen. Kann das gut gehen? Wohl kaum. Sie sind einander immer fremd geblieben. Weiterer Dreh: Der vormals kläglich Kurzsichtige Schepp ließ eines Tages seine Augen lasern, sah auf einmal in mehrerlei Hinsicht klar und wurde ungeahnt welthungrig, menschengierig.

Doro hat am Ende noch einmal eine Erzählung hervorgekramt, die Schepp vor vielen Jahren begonnen und dann beiseite gelegt hat. Auch daraus wird streckenweise zitiert. Und Doro schreibt dazu ihre zornige Interlinear-Version. Noch eine Ebene also, noch eine Spiegelung – und es bleibt nicht das letzte Vexierspiel in diesem intimen Kabinett. Schepps Erzählung handelt von einem gewissen Marek, einem 70er-Jahre-Freak und chaotischen Alkoholiker mit Citroen-„Ente“; von der Szene- und Säuferkneipe „Blaue Maus“ und der Bedienung Hanni, die es Marek angetan hatte. Bei Politycki kleiden sich diese Episoden in süffige Genre- und Sittenbilder aus den 1970ern. Die Jahre, die ihr kennt…

Wie in einer Metamorphose wird das besagte Lokal zum „La Pfiff“, in dem die irrlichternde Dana bedient, die ausgerechnet ein Tattoo-Zeichen trägt, das dem „I Ging“ entnommen ist. Eine lockende Hure, doch gleichzeitig eine Unberührbare. Und überhaupt: Was ist real, was ist Fiktion? Was ist bloße Säufer-Hirngeburt? Hat Hinrich Schepp sich in Marek selbst porträtiert und seinen Willen zur Untreue verdruckst durchblicken lassen? Und welchen Anteil hat Doro an all dem? Offenbar einen gehörigen. Sie hat ja sogar Dana regelmäßig getroffen.

So wogt die Novelle recht gemächlich auf und nieder, manchmal plätschert sie leise. Der Autor streut gezielt Rätsel aus, betreibt routinierte Geheimnistuerei. Wie ungreifbar sind hier doch letztlich die menschlichen Beziehungen! Irgendwann beschleicht den Leser ein grauslicher Verdacht: Sind wir etwa schon im Zwischen- oder gar im Totenreich angelangt, in dem all üblichen Mutmaßungen über so genannte „Wirklichkeit“ keine Rolle mehr spielen?

Und tatsächlich. Auf Seite 121 hebt der ganze Bericht noch einmal von vorn an, zunächst mit exakt den gleichen Worten wie zu Beginn. Literatur in der Endlosschleife? Wo soll das nur hinführen?

Ja, wohin? Das Buch ist phasenweise umstandskrämerisch geraten. Politycki will seine Geschichte umwölken und zum Wabern bringen. Wir haben verstanden: Wir sollen nicht verstehen. Also gut. Dann bleiben wir eben hübsch ratlos und vermuten etlichen Tiefgang.

Matthias Politycki: „Jenseitsnovelle“. Verlag Hoffmann und Campe. 126 Seiten. 15,99 €.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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