Die Magie des Doppellebens – Jo Lendles Roman „Was wir Liebe nennen“

Was wir Liebe nennen von Jo LendleLambert kommt aus Osnabrück und ist ein Zauberkünstler. Die Kunst der Magie hat ihn schon als Kind fasziniert und er ist dabei geblieben, schon weil er nie dazu gekommen ist, etwas Anderes zu lernen. Er meint zu wissen, was er Liebe nennt, aber er gehört auch zu denen, die „immer genau wissen, was ihnen fehlt“. Aufbruch und Mut zur Veränderung sind seine Dinge nicht.

Erstmals begibt es sich, dass das alljährliche Magier-Treffen auf einem anderen Kontinent stattfindet und so besteigt der bekennende Provinzler ebenfalls erstmals ein Flugzeug. Bisher hat das Schicksal ihn immer wohlwollend behandelt, viel ist ihm in seinem Leben nicht geschehen. „Wäre er eine Adventskerze, er wäre die Vierte„. Der Flug, ein neuer Kontinent ist ihm schon Aufregung genug. Doch bevor er überhaupt an seinen Zielort Montreal gelangt, muss sein Flugzeug notlanden und beschert ihm eine eigenartige Nacht mit zufälligen Leidensgenossen. Nach Irrungen endlich in Kanada angekommen, sich völlig aus der Zeit geworfen fühlend, lernt er die junge Biologin Fe (Felicitas) kennen, die gerade dabei ist, fast ausgestorbenen Wildpferden die Freiheit wiederzugeben. Die ungestüme junge Frau fasziniert ihn ungemein.

Mit Fe traut er sich, Träume von Freiheit, Weite und Wildheit zu träumen. Doch so einfach ist das nicht: „Sein bisheriges Dasein hatte ihn auf so etwas nicht vorbereitet: Die Frau seines Lebens zu treffen, obwohl man die Frau seines Lebens bereits getroffen hatte.“ Die Liebe, die daheim auf ihn wartet, begann ebenfalls romantisch. Und es ist auch nicht so, dass er diese Frau nicht liebt. Allerdings stehen in dieser Liebe Entscheidungen an, wie man den Alltag künftig zu leben gedenkt. In Kanada erlebt er mit Fe magische, verzauberte Momente, ganz ohne Trickkiste. Doch auch hier fühlt er sich außerstande, eine wie auch immer geartete Entscheidung zu treffen.

Das Schicksal in Form eines überbuchten Fluges gibt ihm eine Chance. Die gemeinsame Zeit mit Fe ist verlängert, der Augenblick der Entscheidung verzögert. Vor die Wahl zwischen zwei Realitäten gestellt, flüchtet er sich in die Magie. Dieses Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt-Spiel beherrscht er gut. Passt ihm ein Glückskeks-Spruch nicht, knackt er solange Kekse, bis der rechte Spruch kommt. Es ist Zeit für den Zauberer, Zeit für den Autor in seine Trickkiste zu greifen und Lambert ein zweites Leben im Ersten zu geben. Lambert eins trifft auf Lambert zwei. Der eine bemüht die Vernunft, der andere die Sehnsucht. Die bis dahin recht ruhige Geschichte entwickelt sich zu einem rasanten surrealen Roadmovie durch die Wildnis Kanadas, an dessen Ende die Entscheidung steht, welcher der beiden Lamberts die Oberhand behält.

Mit dieser Geschichte einer Liebe und eines Aufbruchs hat Jo Lendle ein nicht alltägliches Buch vorgelegt. Zunächst mutet „Was wir Liebe nennen“ wie eine ganz einfache Geschichte an, doch so einfach ist es mit der Liebe und dem Leben nicht. Liegt eine mögliche Lösung in einem Doppelleben? Es drängt sich der Gedanke auf, dass Jo Lendle in diesem Buch Lösungsmöglichkeiten mit sich selber diskutiert. Schließlich führt auch Lendle so etwas wie ein Doppelleben. Nach langen Jahren verlegerischer Geschäftsführertätigkeit beim DuMont-Verlag wird er nach einem Sabbatical ab Januar den traditionsreichen Hanser Verlag führen. Daneben reüssiert er aber auch schon seit Jahren erfolgreich als Autor. „Was wir Liebe nennen“ ist sein vierter Roman. Sicher kein Zufall, dass er vor der großen Veränderung in seinem Leben einen Roman schreibt, in dem er als Autor leichten Herzens den Job des Zauberers übernehmen kann. In der Verlagswelt hilft kein Zauber und kein Trick, Lendle weiß das. Er ist bekannt dafür, sich den Veränderungen und Herausforderungen der Verlagswelt sehr bewusst zu sein.

Ob er auch beim Hanser Verlag für magische Momente sorgen kann, wird sich weisen. Doch mit seinem vierten Roman tut Lendle genau das. Er schenkt dem Leser Sätze von einfacher Klarheit und anrührender Poesie. Mal beschwört er eine leichtfüßige Stimmung, mal eine ungestüme, gelenkt von der Sehnsucht nach ungezähmter Wildheit. Gut zeigt sich seine enorme Stilsicherheit in der kleinen Nebengeschichte um Viola und Sascha, seine Gefährten beim Flugzeugabsturz. Auf nur wenigen Seiten transportiert er da wuchtige Emotionen. Das Buch liest sich, als wäre es dem Autor von seiner Eingebung diktiert worden, doch sicher ist es sorgfältig konstruiert und formuliert. Schließlich ist nichts schwerer, als etwas leicht erscheinen zu lassen. Das weiß der Zauberer, das weiß auch der Autor. Schaut man einem Zauberer zu, weiß man nie, wann genau der Moment der Magie stattfand. So ist es auch im Buch, die magischen Momente sind versteckt. Oft erkennt man sie erst im Nachhinein.

Mitten im Buch wechselt das Buch in eine Art surrealen Realismus und spielt auf mehreren Ebenen. Spielt mit der Zeit und den Protagonisten, welche Lendle durchgehend mit warmer Zuneigung beschreibt. Die zwei Seelen-in-meiner-Brust-Thematik ist nicht neu, neu ist der abrupte Wechsel, der nicht eines gewissen Reizes entbehrt, zumal die Handlung etwa in der Mitte dahinzuplätschern beginnt. Mit dem Stilwechsel nimmt sie aber schnell Fahrt auf. Den Kreis schließt er gekonnt, indem er Bilder aus dem ersten Teil wieder aufgreift und ihnen im Nachhinein Symbolik verleiht. Lambert bleibt der zaudernde Zauberer, letztlich entscheidet sein Unglaube an „die Folklore der Freiheit“. Eine ganz und gar nicht faustische Entscheidung, sondern eher eine, die zwischen Ironie und Resignation mäandert.

Ich finde es mutig, sich als bekannte Persönlichkeit des Literaturbetriebes an eine Liebesgeschichte, an Gefühlswelten zu wagen. In dieser bisweilen überintellektuellen Welt ist das ein schmaler Grat. Aber Lendle hält die Balance sehr gut, bis zur Grenze des Kitsches ist bequem viel Platz. Für den Leser ist es schön, sich auch einmal in eine märchenhafte Geschichte fallen lassen zu dürfen.

Damit ist Lendle und seinem Lambert ein Trick gut gelungen. Der Leser ist bezaubert und entführt in eine Welt voller Möglichkeiten, die an die Macht der Liebe, aber auch an die der Zufälle glauben lässt. Jeder wird die Frage nach dem, was wir Liebe nennen, auf seine eigene Weise beantworten. Auch wenn Lambert manchmal mit einem Augenzwinkern auf die Möglichkeit hinweist, die Antwort wäre ganz leicht auf chemische Reaktionen zu reduzieren, Lendle beantwortet sie mit diesem Buch für sich. Was er Liebe nennt, ist ganz sicher auch Liebe zu Geschichten, zur Phantasie, zur Sprache, zum Wort.

Jo Lendle: „Was wir Liebe nennen“. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, 248 Seiten, €19,99

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