Visionen von der Schattenseite

Neulich via DVD wieder auf Michelangelo Antonionis Kinoklassiker „Blow Up“ von 1966 gestoßen. Mal reinschauen, dachte ich mir. Mal sehen, was man davon noch weiß. Und was er einem heute noch gibt.

Frei heraus: Man kann ihn beinahe anschauen wie eine Neuerscheinung. Dieser staunenswerte Film hat immer noch und wohl für einige weitere Zeit Bestand. Haltbar bis 2100. Oder so ähnlich. Er ist visionär, klar- und weitsichtig, vollgesogen mit dem Zeitgeist von 1966, mit Essenzen jener Jahre – und doch wird das alles bereits mit distanziertem Blick geprüft. Nacht- und Schattenseiten von Swinging London und der damaligen Pop-Kultur funkeln geradezu gefährlich. Bleiche Gespenster mit erschreckend leeren Gesichtern sind da unterwegs. Und das Ende aller Harmlosigkeiten ist gekommen. Etwas Tödliches ist an die Stelle von Carnaby Street, Twiggy und den frühen Beatles gerückt.

Alle monströsen Auswüchse von Coolness, die ohne weiteres in achtlose Gefühlskälte übergehen kann, sind da schon zu besichtigen. Da musste man gar nicht erst den bestialischen Mord an der Schauspielerin Sharon Tate durch die Manson-Family (August 1969) oder Gewaltexzess beim Stones-Konzert von Altamont (Dezember 1969) abwarten, um den endgültigen Verlust vermeintlicher Blumenkinder-Unschuld zu ahnen. Konsumfetischismus, Sexismus und Entfremdung gehen in diesem Filmkunstwerk eine morbide Mischung ein. Ein quasi surreales Element kommt hinzu: Zwischen Wahn und Lust kreischende Horden, ziellos unterwegs, lassen vielleicht schon an Flash Mobs denken, jedenfalls aber an ein sinnleeres Amüsement, das sich bewusstlos zu Tode rennt.

Hauptfigur ist ein offenbar rundum überdrüssiger, auch von lachhaft willigen Groupie-Girls gelangweilter Modefotograf (David Hemmings), der eines Tages im Park Schnappschüsse von einem ungleichen Paar macht und beim schrittweisen Vergrößern („Blow Up“) dieser Bilder grobkörnige Hinweise auf einen Mord entdeckt. Subtil wird das Verhältnis zwischen Abbild und Wirklichkeit erwogen, werden unendliche Verschachtelungen („Bild vom Bild vom Bild vom Bild“ etc.) angedeutet. Grundsätzliche Zweifel an der Wahrheit spielen zwanglos mit hinein.

Bewirkt der zunächst vage mögliche, dann höchst wahrscheinliche Mord den schockierenden Einbruch einer furchtbaren Realität in all das gängige Szene-Gehabe? Rüttelt er gar Menschen wach? Nicht doch! Mit Sex, Drugs & Rock kommt eine dumpf schweigende Mehrheit der ach so „progressiv“ sich gebärdenden über solche Fragen rasch hinweg. In einer Art Trance bedienen sie sich nach Augenblicks-Belieben der Welt, tendenziell rücksichts- und gnadenlos, am liebsten mit wegwerfendem Gestus. Einzig und allein der besagte Modefotograf, ohnehin nebenher mit einem Fotoprojekt über Obdachlose befasst, scheint nunmehr völlig aus der popbunten Welt zu fallen. Ausgerechnet dieser anfänglich elend schnöselhafte, herrschsüchtige, unbeherrschte Typ mit Luxus-Cabrio und Funktelefon (früher Handy-Vorläufer) soll ein letzter Hoffnungsträger sein?

Überdies eröffnet der Film, in dem Vanessa Redgrave, Veruschka von Lehndorff und Jane Birkin mitspielen, einige interessante Nebenschauplätze. So könnte es ein lohnendes, nahezu dissertationswürdiges Thema sein, das von Antonioni komponierte London mit dem ein Jahr später datierten kulissenhaften Paris von Jacques Tati („Herrliche Zeiten“ alias „Playtime“, 1967) zu vergleichen.

Ganz zu schweigen vom viel beschworenen Rauschen der Bäume im Park und dem kuriosen Kabinett eines staubigen Antiquitätenladens. Oder von Jeff Beck („Yardbirds“), der für die Kamera mit stummer Aggression seine Gitarre zertrümmert. Auch dies ein Menetekel.

Gerade weil Antonionis Film so klaftertief in seiner Zeit verankert ist, weist er weit über sie hinaus. Ähnlich verhält es sich mit Werken, die regional oder örtlich verwurzelt sind. So wie just jene literarischen Werke, die aus angeblicher Provinz schöpfen, häufig die ganze Welt enthalten. Selbsternannte „Metropolen“-Kultur hingegen und Hervorbringungen, die sich selbstgewiss und vor aller Überprüfung „überzeitlich“ gerieren, wecken gerade den Verdacht, dass es in ihnen kurzatmig, eng und engstirnig zugeht.

P. S.: Warum ich jetzt über ein Kinoereignis von 1966 schreibe? Weil es mich eben jetzt beschäftigt und beeindruckt hat. Auch Romane, Gemälde oder Musikstücke von (beispielsweise) 1842, 1929 oder 1960 könnten ja jederzeit zu brennenden Themen werden. Eben darin liegt ein Wunder der Künste.

DVD (106 Minuten / Warner Home Video), ca. 15 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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