Natürlich haben sie jetzt doch noch was gefunden, und die Angst vor einer spielstättenfreien zweiten Halbzeit in der diesjährigen Dortmunder Theatersaison hat sich als unbegründet erwiesen. Der neue Ort heißt „Megastore“, und der Name ist so stark, daß sie ihn gelassen haben. Was man gut verstehen kann: „Megatheater im Megastore“ klingt doch um Klassen besser als „Vorstellungen in der Ausweichspielstätte“, oder?
Der Megastore befindet sich in Dortmund Hörde im Gewerbegebiet nahe Wilo-Pumpen, an der Felicitasstraße, also quasi eine Straße vor oder hinter dem Recycling-Hof der Stadt, je nach dem, aus welcher Richtung man kommt. Bis vor einiger Zeit wurden hier Fanartikel von Borussia Dortmund verkauft, und einen Schönheitspreis wird der zweckmäßige Baukörper vermutlich nie bekommen. Das Theater spielt ab Dezember – wenn das Große Haus renoviert wird – also quasi am A… der Welt, jedoch mit Bus und Bahn halbwegs passabel erreichbar.
Und was wird hier gespielt?
Nun, man gibt zum Auftakt, was in Dortmund nicht alle Tage passiert, das Stück einer renommierten Dramatikerin. „Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek soll erstmalig am 11. Dezember über die Bühne gehen. Es dreht sich um Beate Zschäpe, die seit Mai 2013 in München vor Gericht steht – und schweigt. Sie ist, wie bekannt, die einzige Überlebende des Mördertrios, das sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) nannte und aus rassistischen Motiven zehn Menschen umbrachte. Regie führt Michael Simon, und es wird wohl ein sehr ernster Abend werden.
Zwei Ehepaare streiten
Richtig spaßig ist auch das nächste Stück nicht, wenngleich das Setting zunächst ein bißchen an Yasmina Rezas Aufstellungen erinnert. In „Geächtet (Disgraced)“ treffen zwei Ehepaare aufeinander. Hier der erfolgreiche Anwalt Amir, Muslim mit pakistanischen Wurzeln und verheiratet mit Emily, weiß und protestantisch; dort der amerikanische Jude Isaac und seine afroamerikanische Gefährtin Jory, die als Anwältin eine Kollegin von Amir ist. Sie machen den Fehler, über Politik zu reden, und spätestens beim Thema „9-11“, dem Terrorangriff auf die New Yorker Twin Towers im Jahr 2001, ist die gute Stimmung dahin. Doch der Streit geht dann erst richtig los, und laut Ankündigung ist nachher nichts mehr so wie vorher.
Angesichts auch der doch recht exemplarischen Biographien ahnt man die anstehenden Konflikte; und wünscht sich, daß es nicht allzu pädagogisch wird, oder moralisch, oder beides. Regie in diesem Stück von Ayad Akhtar führt Hausherr Kay Voges selbst (ab 6. Februar 2016).
„Die Liebe in Zeiten der Glasfaser“ blickt aus verschiedenen Winkeln auf das Skypen. Ed Hauswirth hat das Stück als „ein Stück Skype“ geschrieben und bringt es im Megastore, auch Regie führend, am 12. Februar 2016 zur Uraufführung. Falls jemand das Wort nicht kennt: Statt Skypen hätte man früher vielleicht „Bildtelefon“ gesagt, aber natürlich geht das heutzutage über Computer und Internet. Nun denn, man wird sehen.
Alles gleichzeitig
Statt um eigene originelle Formulierungen zu ringen, folgt jetzt ein längeres Zitat aus dem Pressetext: „Ein Kind wird geboren. Ein Schiff mit Geflüchteten versinkt im Mittelmeer, und du bist zum Abendessen eingeladen. Über Twitter wird vermeldet: Enthauptung in Syrien, in Ungarn ist der Stacheldraht fertig, die Grenzpolizei setzt Wasserwerfer ein gegen den Ansturm der Verzweifelten. Die Steuererklärung ist fertig. Peter will heiraten, Urs zum IS, und aus dem Radio dröhnt das Versprechen von Sonne und Abenteuer: Kreuzfahrt in der Adria. Ein Thalys-Zug wird evakuiert. Terrorgefahr. Radiotalk zur Angst vor Flüchtlingen. Der erlösende Führungstreffer in der Nachspielzeit, ein Sonntagsschuß. Frau Dingsbums von nebenan hat Krebs, in der Ukraine wird geplündert, in Florida schneit es. Meine Freundin hat sich von ihrem Mann getrennt. Facebook präsentiert seine neue Selfie-App für unterwegs. Die Kanzlerin besucht ein Flüchtlingsheim…“
Erkennbar geht es also um die Gleichzeitigkeit der Geschehnisse, der ungeheuerlichen wie der banalen, und das Ensemble wird sich diesem Ansturm der Ereignisse stellen. Methodisch soll „Die Borderline Prozession“ irgendwie den Projekten „Das goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ (2014) und „Die Show – Ein Millionenspiel um Leben und Tod“ aus diesem Jahr nahestehen, aber was Voges da nun genau vorhat, ist noch nicht so recht erkennbar. Das heißt aber auch, daß man auf die Uraufführung am 8. April 2016 gespannt sein muß. Ko-Autoren des Dortmunder Schauspielchefs sind hier Dirk Baumann und Alexander Kerlin.
Übrigens hat der Schriftsteller Walter Kempowski vor etlichen Jahren in seinem Bücherzyklus „Das Echolot“ mit seiner Methode einer gleichzeitigen Notation sehr eindrucksvoll die Zeit des deutschen Nationalsozialismus beschrieben. Aber dies nur am Rande.
Wenn die Spielzeit fast schon zu Ende ist, kommt noch einmal der Dortmunder Sprechchor zum Einsatz. Mit ihm erarbeiten Thorsten Bihegue und Alexander Kerlin ihre Version von Oscar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“, Premiere ist am 18. Juni 2016. Und spätestens dann werden die Freunde des Dortmunder Theaters Bilanz ziehen, wie sie denn war, die erste Spiel(halb)zeit im „Megastore“.
Nicht ohne Buttgereit und Storch
Im (regulären) Großen Haus steht mit dem Drama „Eine Familie“ von Tracy Letts am 24. Oktober noch eine Premiere an, im Kleinen Haus gibt es als Nächstes Neues von, wie man vielleicht sagen könnte, zwei sehr eigenwillige Dortmunder „Hausautoren“ zu sehen. Horror-Experte Jörg Buttgereit stellt, inspiriert vom Film „Der Exorzist“ und unterstützt von Anna-Kathrin Schulz, das Stück Besessen“ auf die Bretter (Uraufführung am 23. Oktober 2015), Wenzel Storch steuert „Das Maschinengewehr Gottes“ bei. Bei diesem am 10. Dezember zur Aufführung gelangenden Bühnenwerk soll es sich um „Eine Kriminal-Burleske aus dem Meßdiener-Milieu“ handeln; ältere Leser werden sich bei dem Titel sicher an den amerikanischen Prediger Billy Graham erinnern, der auch in Deutschland mit Donnerhall missionierte.
König Alkohol
Und schließlich: „Die Reise nach Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew in einer Bühnenfassung von Kathrin Lindner (ab 16. Januar). Es ist die Geschichte eines Bahnreisenden, dessen Hauptaugenmerk dem alkoholischen Nachschub gilt, es ist die Beschreibung einer russischen Gesellschaft, in der der Alkohol die Hauptrolle spielt, und es ist sicher auch eine Verbeugung vor einem herzlichen russisches Volk, das den Zumutungen des Lebens immer wieder mit Menschlichkeit zu begegnen weiß. Mit russischer Seele meinetwegen. Ich bin sehr gespannt, was das Dortmunder Theater aus dieser Vorlage macht.
Übrigens gibt es „Moskau – Petuski“ von Venedikt Erofeev (so schreiben sie es hier) auch als grandioses Hörbuch bei „Kein & Aber Records“. Abwechselnd lesen hier Bochums Homeboy Frank Goosen, Harry Rowohlt und Heinz Marecek, und Letzterer, Marecek, hinterläßt mit seinem wienerisch-balkanesischen, kehlig krähenden Zungenschlag den stärksten und irgendwie auch kongenialsten Eindruck. Aber dies nur am Rande.
Daß das Megatheater für den Megastore einen Megaspielplan hat, versteht sich also von selbst. Hoffen wir also, daß Megaintendant Kay Voges und die Seinen uns eine Megazweitspielzeit an der Nortkirchenstraße bieten werden. Hals- und Beinbruch!
Mehr Information: www.theaterdo.de