„Der Klang sucht mich, nicht ich suche den Klang“ – zum 80. Geburtstag des Komponisten Aribert Reimann

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Gaby Gerster

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Gaby Gerster

Als ich Aribert Reimann aus Anlass der dritten Inszenierung seines „Lear“ 1981 in Mannheim zum ersten Mal traf, erzählte er mir im Interview, wie die Szene des verzweifelten, verstoßenen alten Königs in ihm einen Reichtum an Musik hervorgerufen hat, dem er sich nicht entziehen konnte. Das einzige Stück Shakespeares, in dem er Musik gefunden hat, sei diese Geschichte eines Menschen gewesen, der von heute auf morgen nichts mehr hat als sich selbst. Ein Verstoßener unter Menschen, die nicht mehr miteinander reden, sondern nur noch lügen.

Ein Thema, das Reimann in den siebziger Jahren, als der „Lear“ entstand, als hochaktuell einschätzte: „Ausgesetztsein, Enteignung, Terror – alles Dinge, die sich heute pausenlos auf der Welt ereignen.“ Nur damals?, möchte man fragen – und mit dieser Frage erklärt sich, warum Reimanns großformatiges Werk über ein Thema, an dem kein geringerer als Giuseppe Verdi gescheitert ist, nach wie vor in den Spielplänen steht. Über 30 Mal ist die Oper seit ihrer Münchner Uraufführung 1978 neu inszeniert worden. Weltweit, zuletzt sogar in Japan.

„Lear“ in Düsseldorf und Essen

Düsseldorf zog damals, als die Rheinoper noch ein bedeutendes deutsches Haus war, sofort nach und sicherte sich die zweite Inszenierung. In Essen kam „Lear“ unter Stefan Soltesz 2001 heraus. Die letzten deutschen Neuproduktionen gab es in Frankfurt (Keith Warner, 2008), an der Komischen Oper Berlin (Hans Neuenfels, 2009), in Kassel (Paul Esterhazy, 2010) und in Hamburg (Karoline Gruber, 2012). Jetzt kommt die Shakespeare-Adaption, passend zum 400. Todestag des britischen Dramatikers, erneut in Paris auf die Bühne, Regie führt Calixto Bieito, die Premiere ist am 23. Mai.

Bei aller Vorsicht gegenüber Prognosen: Reimanns „Lear“ gehört zu den ganz wenigen Werken des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die jetzt schon einen Platz im großen Repertoire erobert haben. Wäre die Oper nicht so aufwändig orchestriert, hätte sie sicher auch den Weg auf kleinere Bühnen gefunden.

Im „Lear“ ist Reimann gelungen, was dauerhaft rezipierte Werke ausmacht: ein zeitloses Thema, das unter aktueller Perspektive erschlossen wird; eine expressive Tonsprache, die unmittelbar zu ergreifen vermag, dennoch höchst bewusst durchkonstruiert ist. Und ein untrügliches Gefühl für die menschliche Stimme und ihr Ausdrucksspektrum. Nicht umsonst hat Dietrich Fischer-Dieskau schon 1968 gedrängt, Reimann möge sich des „Lear“ annehmen. Zehn Jahre später sang er die Titelpartie in der Münchner Uraufführungsregie von Jean-Pierre Ponnelle, mit Gerd Albrecht am Pult.

Grotesk, unheimlich, tiefgründig: Aribert Reimanns "Die Gespenstersonate" in ihrer jüngsten Inszenierung 2014 in Frankfurt, mit Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Grotesk, unheimlich, tiefgründig: Aribert Reimanns „Die Gespenstersonate“ in ihrer jüngsten Inszenierung 2014 in Frankfurt, mit Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Inspiration durch große Literatur

In diesem „Lear“ und seiner Geschichte steckt vieles, was den Komponisten Aribert Reimann kennzeichnet. Zunächst der Stoff: Reimann hat sich stets von großer Literatur inspirieren lassen, von August Strindberg für seine erste Oper „Ein Traumspiel“ (Kiel, 1965), von Yvan Goll für seine mystische „Melusine“ (Schwetzingen, 1971), von Franz Kafka für „Das Schloss“ (Berlin, 1992) bis hin zu seinem jüngsten Musiktheater, der in Wien 2010 uraufgeführten und danach in Frankfurt herausgebrachten „Medea“ nach Franz Grillparzers „Das goldene Vlies“.

Auch sein neues Werk, das für Berlin 2017 vorgesehen ist, fußt mit Maurice Maeterlinck auf einem bedeutenden Literaten. Begonnen hatte die Beschäftigung mit dem Musiktheater mit einem Ballett auf ein Libretto von Günter Grass: „Stoffreste“. Das Debüt des noch nicht 23-jährigen Komponisten erfolgte am 12. Februar 1959 am Essener Theater.

Man hat Reimann vorgeworfen, ein unpolitischer, konservativer, ja bildungsbürgerlicher Komponist zu sein, der an einer „linearen Erzählhandlung“ festhält. Inzwischen ist die Zeit vorbei, da man das Erzählen von Geschichten als nicht mehr zeitgemäß geringgeschätzt hat. Und Reimanns Stoffe haben mehr mit der Gegenwart zu tun als manches aufgeregt der Aktualität nachhechelndes oder in Kunsttheorie oder Selbstreferenzialität verschraubtes Musiktheater.

Nichts Abstraktes, sondern Durchlebtes

So ist Reimanns „Troades“ von 1986 – er nannte sie selbst einmal seine Anti-Kriegs-Oper – nicht nur eine musikalische Reflexion der furchtbaren Erlebnisse des Neunjährigen, der den verheerenden Bombenangriff auf Potsdam am 15. April 1945 miterlebt und seinen älteren Bruder verloren hat, sondern auch eine ungeheurer Herausforderung an den Zuschauer, der sich den Extremen im Orchester und in der Führung der Stimmen ungeschützt aussetzen muss – so, wie er auch den „Sturm auf der Heide“ in „Lear“ über sich hereinbrechen lassen muss.

Kennzeichnend für den Schaffensprozess: Reimann komponiert nicht Abstraktes, sondern Durchlebtes. Er braucht einen Schlüssel, der in ihm Musik erschließt. Im „Lear“ war das der erste Satz des Königs, in dem dieser seinen Entschluss mitteilt, sein Reich zu teilen – der Beginn eines Verhängnisses, aus dem es kein Entkommen mehr gibt. In „Medea“ war es der Ruf „Gebt Raum!“ aus dem Munde der Mutter, der man die Kinder entfremdet und wegnimmt. Medea ist in gewissem Sinne das weibliche Pendant zu Lear. Auch sie ist verstoßen, eine ohnmächtige Fremde in der Welt, die sie umgibt. Aber sie findet in der Bedrängnis zu Stärke. Eine Figur, in der Reimann die Tiefenschichten entdeckt hat, und die in ihm so viel Musik erzeugte, dass er ihr nicht mehr entkommen konnte.

„Plötzlich ist da eine Farbe, der ich nachgehen muss“

In einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ hat Reimann seinen Schaffensprozess im Sinne einer Inspiration beschrieben: „Plötzlich ist da eine Farbe, eine Konstellation, der ich nachgehen muss. … Das Seltsame ist, dass ich das Gefühl habe, der Klang sucht mich, nicht ich suche den Klang – und dass er von außen kommt, von sehr weit weg.“ Auch er sei beim Komponieren „nicht ganz von dieser Welt“. Mit bloßer Intuition hat das freilich wenig zu tun: Von der Eingebung führt der Weg zum bis ins letzte Detail durchdachten Prozess der Organisation und Verarbeitung des Materials. Handwerk eben, wenn auch souverän gehandhabtes. Dennoch bleibt der Rest eines Geheimnisses.

Das Klavier war sein Instrument: Reimann war ein gesuchter Liedbegleiter. Foto: Schott Promotion, Gaby Gerster

Das Klavier war sein Instrument: Reimann war ein gesuchter Liedbegleiter. Foto: Schott Promotion, Gaby Gerster

Reimann ist schon von seiner Herkunft ein Mann der Stimme, des Singens. Seine Mutter war Sängerin und Gesangslehrerin, der Vater Leiter des Staats- und Domchores Berlin. Gesangsübungen gehörten zum täglichen Brot, Bach und Schubert waren „wie Essen und Trinken“. Die erste Komposition, die Reimann mit zehn Jahren schreibt, ist ein unbegleiteter Gesang, angeregt von Kurt Weills „Der Jasager“. Mit 22 Jahren begleitet er Dietrich Fischer-Dieskau – und nach dem Bariton noch viele weitere namhafte Sänger. Ein befruchtender Austausch: Kaum ein Komponist der Gegenwart zeigt sich kundiger und sensibler gegenüber der menschlichen Stimme.

Wiederentdeckung des Liedes

Das Begleiten hat Reimann in den neunziger Jahren aufgegeben, die Beschäftigung mit dem Gesang nicht. Bis zur Pensionierung hatte er eine Professur für Zeitgenössisches Lied in Hamburg, dann an der Berliner Hochschule der Künste inne. Kein Wunder, dass zahlreiche Lieder und Liedzyklen entstanden; Reimann gilt als der Zeitgenosse, der das Lied wieder ins Bewusstsein modernen Komponierens zurückgeholt hat.

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Peter Andersen

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Peter Andersen

Ein wenig seltsam mutet schon an, dass die deutsche Musikwelt vom 80. Geburtstag Aribert Reimanns am heutigen 4. März so wenig praktische Notiz nimmt. An keiner Bühne steht eine seiner acht Opern auf dem Spielplan. Studiert man auf den Internetseiten des Schott-Verlags die Aufführungsdaten, beschränken sich die Konzerte zum Geburtstag auf Berlin: ein Kammerkonzert von Musikern des Deutschen Symphonie Orchesters Berlin, das nach den „Liedern auf der Flucht“ 1960 zahlreiche Ur- und Erstaufführungen realisiert hat.

Am 12. und 13. März spielt das DSO in der Berliner Philharmonie „Tarde“ für Sopran und Orchester; am 22. März folgt das Orchester der Deutschen Oper Berlin in einem Geburtstagskonzert unter Donald Runnicles mit den „Drei Liedern nach Gedichten von Edgar Allan Poe“. Stefan Soltesz dirigiert im Mai zwei Aufführungen des „Lear“ – in Budapest.

Interessant: Das Würzburger Mozartfest bringt im Juni eine ganze Reihe von kammermusikalischen und vokalen Werken Reimanns. Liegt das daran, dass Reimann Mozart „am meisten bewundert“? Und bei den sommerlichen Musiktagen in Hitzacker wird der Liedkomponist Reimann ausführlich gewürdigt. Dennoch: Für einen Komponisten dieses Rangs ein mageres Geburtstags-Portefeuille. Reimann wird’s verschmerzen. Er war, bei allem Selbstbewusstsein, eh nie der Mann fürs Glamouröse.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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