Der Nikolaus und die Phantasie, die wir so dringend brauchen

Gastautor Heinrich Peuckmann über den Nikolaus und seine bleibende Bedeutung:

In letzten Jahr habe ich nach vielen Jahren Pause anlässlich des Besuches meiner Nichte und ihrer beiden kleinen Töchter das Nikolauskostüm aus dem Schrank geholt. Während meine Frau und einer meiner Söhne unsere Gäste im Wohnzimmer begrüßten, hielt ich mich versteckt.

Nicht der Verfasser dieses Beitrags, wohl aber der Blogbetreiber Bernd Berke in früheren Jahren mit dem Nikolaus. (Foto: Berke / Privat)

Besuch vom Nikolaus vor etwas längerer Zeit. (Foto: B. Berke / Privat)

In einem passenden Moment schlich ich mich in den Keller, zog mir das Kostüm an, schaute in einen Spiegel und erkannte mich selbst nicht mehr. Kein Zweifel, das war er, der mir da im Spiegelbild entgegen lächelte, der Nikolaus mit seiner Knollennase. Über die Terrasse ging ich offen auf unser Haus zu, die beiden Mädchen entdeckten mich sofort und kamen auf die Tür zugelaufen.

Ein skeptischer Grundschüler

Die Kleinere hat mich zwar sofort erkannt, aber das machte nichts. Bevor der Nikolaus die Geschenke aus seinem Sack holte, haben beide brav ein Gedicht aufgesagt und natürlich nicht mit der Rute Bekanntschaft gemacht. Wo kämen wir da hin? Die bekam sanft einer meiner Söhne zu spüren, weil der seinen Vater im verflossenen Jahr geärgert hatte. Der Nikolaus hatte irgendwie davon erfahren.

Nachher, um die Zweifel der Kinder zu mehren, ging der Nikolaus für alle sichtbar an unserem Haus vorbei zur Nachbarstraße, drehte sich noch ein paarmal um und winkte ihnen zum Abschied zu. Was der Nikolaus nicht wusste, im Nachbarhaus packten gerade zwei Kinder ihre Stiefel aus, in die der Nikolaus etwas hineingelegt hatte, und der Größere, ein Grundschuljunge, erklärte selbstbewusst, den Nikolaus gäbe es gar nicht, es sei seine Oma gewesen, die die Stiefel gefüllt hätte. Hatte sie auch und wusste deshalb keine Antwort. Aber dann schaute sie zufällig aus dem Fenster und rief: „Aber da ist er ja, der Nikolaus. Kommt schnell, dann könnt ihr ihn noch sehen.“

Die Welt mit anderen Augen sehen

Die Kinder stürmten zum Fenster und tatsächlich, da stand ein kleiner dicker Nikolaus mit Knollennase vor ihnen auf der Straße. Und noch besser, er winkte ihnen sogar zu, jedenfalls glaubten sie das. Selbst der Skeptiker, der Grundschuljunge, staunte mit offenem Mund und winkte, zur Freude seiner Oma, zaghaft zurück.

Kindheit braucht Geheimnisse, an denen sich Phantasie entzündet. Gerade der uralte Mythos liefert sie und gibt Anstoß, die Welt anders zu sehen, als sie gerade erscheint. Kinder nehmen das mit ins Leben, haben Freude an weiteren Geheimnissen und empfinden es als Anstoß, die Welt mit Phantasie immer neu zu sehen.

Und nebenbei schult es die Sozialkompetenz. So können die Kinder sich besser in die Lage ihres Nächsten versetzen, können Probleme, Ängste und Freuden nachempfinden und rücksichtsvoll darauf eingehen. Eine Fähigkeit, die sie mitnehmen ins Erwachsenenleben und dann vielleicht noch mehr benötigen.

Wider das zweckrationalistische Menschenbild

Wie traurig, dass pseudoaufklärerische Eltern  diese Gelegenheit nicht nur verstreichen lassen, sondern ihren Kindern auch noch vermeintlich rationale Erklärungen geben, warum das alles Humbug sei. Sie merken nicht, wie sie dabei einem Menschenbild Vorschub leisten, das sowieso schon den größten Teil unseres Lebens beherrscht. Einem Menschenbild der Zweckmäßigkeit, der bloßen Tätigkeit zur Gewinnmaximierung, des klaren Kalküls. Ein Weltbild insgesamt, das alles unter den Vorbehalt der Berechnung und Berechenbarkeit stellt.

Phantasie, und das heißt allemal, sich eine Welt vorstellen zu können, die anders ist als jene, die uns gefangen nehmen will und die, wer weiß, vielleicht sogar Wirklichkeit werden könnte, stört da nur. Sie ist, man muss das deutlich sagen, systemkritisch. Nackte Fakten, angeblich unumstößlich, sollen unser Denken prägen und jenen, die davon bestens profitieren, ihre Gewinne sichern und ihre Gier stillen.

Börsenmakler missbrauchen den Begriff

Das Wort Phantasie taugt da nur noch in der Verwendung der Börsenmakler. Diese oder jene Aktie, verkündigten sie lauthals, lasse noch „Phantasie“ nach oben offen und meinen damit nichts anderes als weiteren Gewinn und Abzocke. Das arme Wort, angetan, sich neue, ganz andere Welten vorzustellen, kann sich gegen den Missbrauch nicht wehren. Unbarmherzig wird es in jene Welt eingebaut, gegen die es eigentlich steht. Ihm geht es da nicht besser als dem Nikolaus, der nicht als Beglücker der Kinder für ein barmherziges Leben stehen soll, sondern der im Kaufhaus Anreiz für Konsum schaffen muss, der zum Weihnachtsmann mutiert und ganz Konsumgeist wird.

Geheimnisse erleben, Phantasie entwickeln, wie wichtig in allen Zeiten. Und wie schnöde und gedankenlos kaputt gemacht für ein Weltbild, das viele Erwachsene nicht einmal durchschauen. Wie denn auch? Wie sollten sie genug Phantasie entwickeln, sich die Welt anders vorzustellen als sie gerade ist, wenn sie schon gedankenlos jene ihrer Kinder unterdrücken.

Unser Nikolaus war jedenfalls zufrieden mit seinem Auftritt. Er hat keine Kinder geängstigt, wie das oft als Argument gegen den Mythos verwendet wird, sondern er hat ihre Vorstellungen von Leben erweitert und Zweifel an der rein rationalen Zweckmäßigkeit gestreut. Unser Nikolaus soll, als er heimlich in den Keller zurückkehrte, laut gelacht haben. Aber ob das stimmt, muss man ihn am besten selber fragen.

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Eine Antwort zu Der Nikolaus und die Phantasie, die wir so dringend brauchen

  1. x sagt:

    Zum Nikolaustag habe ich fuer meine Mutter 2 Paeckchen Bade-Salz gekauft. Da sie nicht zu Hause war, legte ich das Geschenk auf den Tisch in der Kueche mit liebevollem Zettelchen: ‚Vom Nicolaus“. Mein Erstaunen war gross, als mich meine Mutter am Nachmittag anrief, weil sie sich bei mir fuer das Geschenk bedanken wollte.
    – Wieso? Glaubst Du denn nicht, dass es den Nikolaus gibt, der Geschenke vergibt?????? – fragte ich verwirrt. Woher wusste meine Mutter, dass ich es war und nicht der Nikolaus, weiss ich nicht.

    Mit freundlichem Gruss an den Autor.

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