Verwirrspiel zwischen Phantasie und Wirklichkeit: Peter Stamms Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“

In einem Roman hat Christoph vom Scheitern seiner großen Liebe zur Schauspielerin Magdalena erzählt. Das ist viele Jahre her. Seitdem ist er literarisch verstummt. Als er die junge Schauspielerin Lena trifft, erzählt er ihr seine Geschichte, die auch ihre Geschichte ist. Denn alles, was Lena gerade erlebt, hat auch Christoph bereits erlebt.

Er weiß auch, was ihr Freund Chris, der an einem Roman über seine Beziehung zu Lena arbeitet, schreiben wird, denn er hat das Buch ja längst vor Jahren selbst verfasst. Wie kann es sein, dass Christoph meint, Lenas Leben zu kennen und zu wissen, was ihr noch widerfahren wird? Spioniert Christoph ihr nach oder vermischen sich auf magische Weise Literatur und Wirklichkeit?

Bevor der 1963 in der Schweiz geborene Peter Stamm Schriftsteller wurde, hat er sich mit Psychologie und Psychopathologie beschäftigt und in Paris und New York gelebt. Doch dann ist er zurück in seine Heimat gegangen. Seit er 1998 mit „Agnes“ als Erzähler debütierte, gehört er zu den wichtigsten Autoren der deutschsprachigen Literatur.

Zuletzt hatte Stamm („Weit über das Land“) von einem Mann erzählt, der eines Abends plötzlich ohne ein Wort der Erklärung aufsteht, Frau und Kinder verlässt und zu einer jahrelangen Wanderung aufbricht, von der er vielleicht nie wieder heimkehren wird. In seinem neuen Roman erzählt er von einem Schriftsteller, der sich nicht mit der „Gleichgültigkeit der Welt“ gegenüber dem Einzelschicksal abfinden mag und alles daran setzt, die Trennung von Literatur und Leben aufzuheben.

Varianten des Lebens erproben

Es ist ein vorsichtiges Tasten und Abwägen, ein Ausprobieren von nur leicht variierten Lebenswegen, die sich sanft berühren und dann doch unterscheiden. Der Leser wird tief hineingezogen in eine seltsame Spirale aus Erinnerungen und Erfindungen, er weiß nie: Was ist Wahrheit, was Lüge? Ist vielleicht alles, was Christoph über seine Vergangenheit, seine Liebe zu Magdalena und seinen (längst vergessenen und vergriffenen) Roman erzählt, nur Wunschdenken und Phantasie? Findet seine Begegnung mit Lena und Chris wirklich statt? Oder sind die Doppelgänger nur die andere Seite seiner schizophrenen Persönlichkeit?

Um sich von seinen Doppelgänger-Visionen zu befreien, flieht Christoph erst für ein paar Jahre nach Barcelona, später verkriecht er sich als Internatslehrer ins Engadin und versucht, den alten Roman noch einmal neu zu schreiben, um sich seiner Erinnerungen zu vergewissern und herauszufinden, ob er damals sein reales oder sein eingebildetes Leben aufgeschrieben hat.

Bei seinen – eingebildeten oder wirklichen? – Recherchen und Gesprächen erfährt Christoph, dass es Abweichungen gibt: Während Christoph und Magdalena sich einst im Streit für immer trennten, haben Chris und Lena aus einer Laune heraus geheiratet.

Ein ziemlich vertracktes literarisches Spiel. Dass es nicht wirklich gut enden kann, liegt auf der Hand. Vor allem bei einem Autor, der von sich sagt, er habe schon immer davon geträumt, „von allem befreit dem Leben zu entkommen, ohne eine Spur zu hinterlassen.“

Peter Stamm: „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 156 Seiten, 20 Euro.

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