„Freiheit der Linie“: Wie Künstler die Gefühle steigern

Münster. Mit Farbe, Form und Linie muss sich jeder Künstler befassen. Das Landesmuseum in Münster greift eins dieser Grundelemente heraus: die Linie. Nicht einfach so, sondern mit konkreten und teilweise verblüffenden Bezügen.

Die These lautet ungefähr so: Im Jugendstil wurde die Linie zusehends freier behandelt. Sie löste sich immer mehr vom dargestellten Gegenstand und drückte schon durch ihren bloßen Verlauf gesteigerte Gefühle aus; zuweilen geschmäcklerisch und ornamental, aber oft auch empfindsam, geradezu seismographisch. Genau bei solchen Bewegungen konnten die Expressionisten anknüpfen, denen es just um (manchmal steil aufragende) Emotionen ging. Bei ihnen gewann die Linie Kraft und Spannung.

In der Linie liegt die Kraft

Die Münsteraner Schau versammelt nun überraschend deutliche Belege dafür, dass auch Künstler im Jugendstil wurzeln, von denen man das nicht (mehr) weiß: Das Schaffen von Wassily Kandinsky, Franz Marc, Paul Klee und Ernst Ludwig Kirchner wird zurückgeführt auf solche Ursprünge. Was hier aus ihren Frühzeiten gezeigt wird, steht tatsächlich noch im Bann des Jugendstils. Erst im Lauf der Jahre gingen sie eigene Wege.

Beispiel Kandinsky 1907 noch ein lineares Wellenspiel aus Kleidung und Haaren („Der Spiegel“), ganz im Geist des Jugendstils, bis 1911 dann der kühne Sprung ins gänzlich Freie. Die Linien halten das Bildgefüge nur noch vage zusammen, sie sind zum Ausdrucksmittel geworden.

Als Kristallisationsfigur des Übergangs hat Ausstellungs-Kurator Erich Franz einen Mann namens Hermann Obrrist (1862-1927) ausgemacht. Franz versichert: „Es ist keine Bildungslücke, Obrist nicht zu kennen“. Seit rund 40 Jahren sei dieser Jugendstil-Künstler in deutschen Museen praktisch nicht mehr präsent. Eine „Ausgrabung“ also. Der gebürtige Schweizer Obrist hat – im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kunstgewerbe – das freie Spiel der Linien bis zum Rand der Abstraktion getrieben. Dabei werden bereits expressive Qualitäten sichtbar. Ein um 1895 von Obrist entworfener Wandbehang zeigt laut Titel Alpenveilchen, wirkt aber eher wie eine flammende Linien-Schrift oder (so befand damals ein Kritiker) gar wie ein „Peitschenhieb“. Für die Münsteraner Schau wurde das Werk in rund 600 Stunden mühsamer Handarbeit nachgestickt, es erstrahlt nun fast wie in der Ursprungszeit. Das Original in München ist hingegen arg ramponiert.

Obrist, der vorwiegend in München lebte und arbeitete, hat mit derlei Formfindungen direkten Einfluss ausgeübt: Kandinsky war mit ihm befreundet, Kirchner hat um 1902 bei ihm das Zeichnen gelernt. Auch Marc und Klee nahmen seine Anregungen auf – und wandelten sie ab. Durch Entwürfe für Alltagsgegenstände, Brunnen und Denkmäler hat Obrist wohl auch den nachmals berühmten Architekten Peter Behrens und Henry van de Velde Anstöße gegeben.

Es herrscht ein Stilwille, der die sichtbare Wirklichkeit hinter sich lässt. Hochinteressant ist es zu sehen, dass Marcs Tierfiguren sich den Linienführungen des Jugendstils entwickeln, gleichsam daraus hervorwinden. Es ist wie eine Geburt, ein großes Werden.

Mit Vorläufern vor aus Frankreich beginnt der Reigen. Im Zeichen einer grassierenden Japan-Mode („Japonismus“) wurde die vordem im Historismus schwelgende Kunst entschlackt, vereinfacht, auf pflanzlich inspiriertes Formenvokabular reduziert. Eine Abfolge von Mädchenbildnissen (Edvard Munch, Ferdinand Hodler) beweist sinnfällig die neue Schlichtheit. In ihr verbargen sich ungeahnte, zuweilen erschütternd intensive Ausdruckswerte.

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INFOS

  • „Freiheit der Linie. Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner.“
  • Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz)
  • Ausstellung bis zum 17. Februar 2008. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr. Eintritt 5 Euro, Familie 11 Euro. Katalog 27 Euro.
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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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